Zum damaligen Zeitpunkt war meine Mutter mit meinem jüngeren Bruder schwanger und stand kurz vor dem Geburtstermin. Mein Vater war zu dieser Zeit auf Montage in der Türkei – und das seit drei Monaten. Und dann war da noch ich: ein umtriebiger, neugieriger Junge mit Hämophilie A, der mit seinen sechs Jahren natürlich Spaß haben und die Umwelt erkunden wollte. Ach ja…der Spielplatz und Abenteuer gehörten zu meinen Vorlieben. Naja, und Angst war für mich ein absolutes Fremdwort.
Jung und wild
Also, los ging‘s mit meinen damaligen Freunden auf unseren Spielplatz in Hamburg-Bergedorf. Während meine hochschwangere Mutter mit ihrer Nachbarin in der Waschküche unsere Wäsche mangelte und zusammenlegte, tobte ich mit meinen Freunden auf unserem Lieblingsspielplatz herum. Die große Sandkiste war irgendwie immer das Highlight – und so begann das Elend …
Allesamt tobten wir Kinder wie die Verrückten herum und rannten um unsere große Sandkiste, die aus Stein gemauert war. Warum auch immer rutschte ich weg, landete mit meinem Kopf genau auf der Ecke der Steinkante und verletzte mich. Schnell merkte ich, dass Blut lief – und davon nicht zu wenig. Gemeinsam mit meinen Freunden lief ich in Richtung der Waschküche, wo sich meine Mutter befand. Dort angekommen sah sie sofort, wie das Blut strömte, holte frisch gemangelte Handtücher hervor und drückte mir diese auf die immens blutende Wunde.
Nochmal Glück gehabt
Meine Mutter und unsere Nachbarin organisierten gemeinsam den Transport in mein damaliges Hämophilie-Zentrum. Die Fahrt erfolgte mit einem Taxi. Warum damals keiner der beiden einen Krankenwagen rief, bleibt bis heute ein Rätsel. Quer durch Hamburg dauerte die Fahrt eine gute Stunde. Der Taxifahrer gab damals sein Bestes. Vollgas war sein Motto, um mich schnellstmöglich dahin zu bringen, wo ich effektiv behandelt werden konnte.
Im Hämophilie-Zentrum angekommen, begann sofort die Behandlung mit Faktor 8. Zugleich musste die Wunde zugenäht werden. Es war aber klar, dass ich einige Tage im Krankenhaus bleiben musste – reine Vorsichtsmaßnahme.
Ich blieb allein im Krankenhaus, meine Mutter fuhr mit der Nachbarin wieder in unsere Wohnung zurück. Zwei Tage später wurde mein Bruder geboren, aber in einem Krankenhaus, das eine Stunde von mir entfernt lag – in Hamburgs Stadtteil Bergedorf, wo wir wohnten. Mein Vater wusste nichts von meiner Verletzung. Als mein Bruder auf dem Weg in die große, weite Welt war, saß mein Vater im Flieger aus der Türkei zurück nach Deutschland.
Allein aber nicht einsam
Ich musste mich damit zufrieden geben und es hinnehmen, allein im Hämophilie-Zentrum sein zu müssen, genau wie meine Mutter, die mit meinem neugeborenen Bruder in Bergedorf war. Irgendwann erschien dann mein – unser – Vater, der dann, schön braun gebrannt von der Montage in der Türkei, erstmal von den Krankenschwestern „beliebäugelt“ aber auch gerügt wurde. Schließlich hatte seine Frau das zweite Kind zur Welt gebracht und er war nicht da – und kam dann eben noch braun gebrannt, wie aus dem Urlaub kommend, im Krankenhaus an. Mein Vater erklärte, dass er auf Montage war und entkam der Situation somit ganz gut.
Aber es gab ja noch MICH. Nach ein paar Tagen durfte ich das Krankenhaus verlassen und wurde von einer Freundin meiner Mutter abgeholt. Meine Mutter war nämlich noch immer im Krankenhaus mit meinem Bruder. Ich hatte zwar genug Faktor im Blut, musste aber trotzdem jeden Tag in die Klinik, um mit Faktor versorgt zu werden. Die beste Freundin meiner Mutter, die liebe Anita, hat mich damals liebevoll betreut und umsorgt und mich immer in mein Hämophilie-Zentrum gefahren. Alles wurde gut und eine Erinnerung an diesen Vorfall habe ich noch bis heute – die Narbe an der linken Stirnseite.
Zeit ist wertvoll
Wenn ich mich heute verletzen würde, würde die Versorgung viel unkomplizierter ablaufen. Solch eine lange Anfahrt zum Krankenhaus und das auch noch in einem Taxi wäre heutzutage nicht mehr denkbar. Man würde direkt mit einem Krankenwagen abgeholt werden. Außerdem ist die Infrastruktur heute eine ganz andere und die Anbindung an Krankenhäuser ist viel besser. Zu viel wertvolle Zeit ging damals verloren und die Faktorpräparate waren lange noch nicht so ausgereift wie heute. Heute gibt es die Möglichkeit, sich in Notfällen selbst zu substituieren – auch das war damals nicht möglich. Gerade bei uns Blutern und solch immensen Verletzungen ist Zeit das Kostbarste. Die Prophylaxe hilft uns, das enorme Blutungsrisiko eingrenzen zu können. Was für den „normalen“ Menschen eine Lappalie ist, kann für uns Bluter lebensbedrohlich sein und sollte nicht unterschätzt werden. Ich bin froh, dass wir heutzutage für den Notfall entsprechende Präparate haben, die uns und unseren Angehörigen ein gewisses Maß an Sicherheit bieten – im Gegensatz zu den Anfängen der Hämophilie Therapie.
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