Auch bei Patienten mit mittelschwerer Hämophilie ist die häufigste Komplikation die Gelenkblutung. Und das nicht erst im höheren Alter. Verglichen mit schwerer Hämophilie A haben fast 40 Prozent der Patienten mit mittelschwerer Hämophilie A ähnlich häufig Problemgelenke. Und speziell Jugendliche mit mittelschwerer Hämophilie A haben ähnlich häufig synoviale Veränderungen (30 Prozent) wie Jugendliche mit schwerer Hämophilie A (53 Prozent). Nur 15 Prozent aller Patienten mit mittelschwerer Hämophilie sind blutungsfrei.1, 2 Hier erfährst Du, wie wichtig dieses Thema für alle mit Hämophilie A ist und warum eine Prophylaxe sinnvoll ist.
Gelenkblutungen und Mikroblutungen
Von einer Gelenkblutung spricht man, wenn Blut in ein Gelenk eintritt, sich im Gelenkraum ansammelt und Schwellungen, Schmerzen und eingeschränkte Beweglichkeit verursacht. Diese Blutungen können durch Verletzungen oder Traumata verursacht werden – sie können aber manchmal auch spontan auftreten.
Außerdem kann es zu kleineren und oft unbemerkten (subklinischen) Blutungen im Gelenk kommen, sogenannten Mikroblutungen. Bereits diese kleinen Blutungen können eine Entzündung der Gelenkinnenhaut auslösen und die Gelenkgesundheit erheblich beeinträchtigen. Diese Mikroblutungen sollten daher ebenfalls unbedingt vermieden werden.
Ein schleichender Prozess
Eine Blutung und ihre Folgen kannst Du einfach wegspritzen? Das stimmt so nicht ganz. Das Gefährliche an Gelenkblutungen ist, dass sie nicht immer beim ersten Mal einen spürbaren Schaden hinterlassen. Zwar merkst Du die größeren Blutungen, aber sind sie vorbei, werden Dir die Folgen nicht zwangsläufig deutlich. Mikroblutungen bemerkst Du womöglich erst gar nicht – ebenso wenig wie die winzig kleinen Schäden, die eine Blutung in Deinem Gelenk verursachen kann.
Mit jeder weiteren Blutung summieren sie sich – und zwar so lange, bis Du es merkst und Schmerzen in diesem Gelenk hast, da Knorpel und Knochen bereits angegriffen sind.
Wie kannst Du das verhindern? Die Antwort ist kurz und simpel: mit der richtigen prophylaktischen Therapie. Sie kann Blutungen und somit auch Gelenkschäden und Schmerzen verhindern.
Ein Hoch auf die Prophylaxe
Ein Argument gegen eine Prophylaxe mag vielleicht sein, dass Menschen mit mittelschwerer Hämophilie A nicht so oft Gelenkblutungen haben, wie Menschen mit schwerer Hämophilie A. Deswegen wäre es für sie eine gefühlte Belastung, wenn sie sich trotzdem regelmäßig spritzen müssten, auch wenn gar nichts passiert ist.
ABER: Genau das ist der Sinn einer Prophylaxe. Es passiert (so gut wie) nichts, weil eine prophylaktische Therapie zum Einsatz kommt.
Argumente für die Prophylaxe: Da ist zum einen die Tatsache, dass es Mikroblutungen gibt, die Du überhaupt nicht bemerkst und deswegen auch nicht behandelst, die aber trotzdem Schäden verursachen können. Und zum anderen lässt es sich mit einer Prophylaxe befreiter leben, weil Du Dir nicht ständig darüber Gedanken machen musst, ob eine Aktivität zu risikoreich ist und zu einer Blutung führen könnte. Du erhältst eine moderne Therapie, die Dir einen konstanten und langanhaltenden Schutz gewährt, und Deine Gelenke gesund erhält – auch im Alter.
Nervige Überlegungen gehören dann der Vergangenheit an: „Muss ich vor dem Sport noch substituieren?“ – „Ist bei einem Nachmittag mit den Jungs das Blutungsrisiko erhöht?“ – „Soll ich zum Picknick am schwer zugänglichen Ort mitkommen, die anspruchsvolle Wanderung mitmachen?“ – „Kann ich meinem Kumpel beim Umzug helfen?“
Solche Fragen kannst Du Dir dann sparen. Man könnte also sagen, dass eine prophylaktische Therapie für ein gutes Gewissen sorgt – und das sowohl durch das reduzierte Blutungsrisiko als auch durch die weniger geschädigten Gelenke.
Doch was bewirkt eigentlich eine prophylaktische Therapie?
Wie Du weißt, wird die Schwere einer Hämophilie in drei Grade unterteilt: leicht, mittelschwer und schwer. Je schwerer die Hämophilie, desto häufiger, intensiver und langanhaltender die Blutungen. Der Schweregrad einer Blutung hängt mit der vorhandenen Faktorrestaktivität zusammen. Ist viel Faktor vorhanden oder die Funktionalität des Faktor VIII hoch, ist auch die Gerinnungsfähigkeit des Blutes normalerweise hoch, und es kommt i. d. R. nicht so schnell zu den Hämophilie-typischen Blutungen.
Menschen sind verschieden – ebenso sind es die Körper und die ihnen zugrunde liegende Physiologie. Daher gibt es keine absoluten Werte: Eine „normale“ Faktoraktivität beziehungsweise Gerinnungsfähigkeit liegt im Bereich zwischen 50 und 150 Prozent. Eine leichte oder milde Hämophilie wird diagnostiziert, wenn die Faktorrestaktivität unter 40 Prozent sinkt. Unter 5 Prozent ist es eine mittelschwere bzw. moderate Form der Hämophilie und unter 1 Prozent eine schwere Form. Der Bereich zwischen 40 und 50 Prozent wird Subhämophilie genannt.4
Da die Blutungen bei unter 1 Prozent Restaktivität am stärksten und häufigsten sind, entstehen bei den Betroffenen am schnellsten und häufigsten erste Schäden in den Gelenken, die bereits in jungen Jahren zu Synovitis und Arthropathien führen können. Um dies zu verhindern, wird ihnen seit längerer Zeit eine prophylaktische Therapie empfohlen.
Schon kleine Verbesserungen der Faktoraktivität können viel bewirken!
Wie Du gut in der oben gezeigten Tabelle sehen kannst, ändert sich die Blutungsrate sehr stark in dem Bereich zwischen 1 und 5 Prozent Faktorrestaktivität. Das bedeutet, dass nur wenige Prozent mehr Faktoraktivität einen sehr großen Effekt haben könnten, wie eine deutliche Reduktion der Blutungsrate – wodurch Synovitis und Arthropathie verhindert werden können.
Bei einer schweren Hämophilie kann durch die Dauerprophylaxe eine Blutungsrate erreicht werden, die der mittelschweren oder leichten Hämophilie entspricht. Bei der Dauerprophylaxe der mittelschweren Hämophilie ist durch die Prophylaxe eine Blutungsrate erreichbar, die im Bereich der leichten Hämophilie liegt.3
Gelenkschäden bei mittelschwerer Hämophilie
Falls wir Dich noch nicht überzeugt haben und Du Dich fragst, ob Menschen mit mittelschwerer Hämophilie wirklich so stark von Gelenkschäden betroffen sind: Ja!
Die CHESS-II-Studie zeigte, dass Betroffene mit einer mittelschweren Verlaufsform durchschnittlich etwa drei Blutungen im Jahr haben. Zum Vergleich: Patienten mit schwerer Hämophilie A haben jährlich ca. 4 Blutungen.1 Und auch diese drei Blutungen können – zusammengenommen – zu erheblichen Schäden im Gelenk führen und somit Schmerzen und Bewegungseinschränkungen verursachen.
Auch beim prozentualen Anteil der Betroffenen mit Gelenkoperationen oder Problemgelenken unterscheidet sich die mittelschwere Hämophilie (24 bzw. 39 Prozent) nicht groß von der schweren Form (24 bzw. 44 Prozent).1 Daraus schließen die Autoren der Studie, dass Menschen mit beiden Verlaufsformen ungefähr gleich stark durch ihre Erkrankung in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt sein müssen.
Im Laufe Deines Lebens treten also immer wieder Gelenkblutungen auf und die Schäden summieren sich. Als Kind oder Teenager magst Du das noch nicht registrieren, aber mit steigendem Alter erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit für Gelenkschäden. Sei also schlau und sprich mit Deinem Behandlungsteam und informiere Dich über die Möglichkeit einer Prophylaxe!
Fazit:
Die Vorteile einer Prophylaxe – sowohl bei mittelschwerer als auch bei schwerer Hämophilie liegen auf der Hand:
- Reduktion von Spontanblutungen
- Reduktion von Gelenkblutungen:
dadurch weniger geschädigte Gelenke und eine höhere Gelenkgesundheit - Reduktion von Schmerzen
- seltenere Arbeitsausfälle und Fehltage
- mehr Potenzial für Aktivitäten – auch für spontane
- Steigerung der Lebensqualität
Empfehlung der Leitlinie der Bundesärztekammer:
Info
Eine blutungsvorbeugende Dauerbehandlung ist auch bei mittelschwerer Hämophilie indiziert, wenn gelegentliche bis häufige Blutungen, insbesondere Gelenkblutungen, auftreten.5
Zahlreiche Studien belegen die Wirksamkeit einer prophylaktischen Substitutionstherapie hinsichtlich einer deutlichen Reduktion von Gelenkblutungen.6
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Quellen:
1. Nissen F et al. (2020) An Insight into Clinical Outcomes in Mild, Moderate, and Severe Hemophilia A: A Preliminary Analysis of the CHESS II Study. Oral presentation presented at the International Society on Thrombosis and Haemostasis (ISTH) Congress 12.–14. July 2020. Virtual. OC 09.3)
2. Schmidt DE et al. (2021) Long-term Outcomes in Adolescents with Moderate or Severe Hemophilia A: A PedNet Study [abstract]. Res Pract Thromb Haemost, 5 (Suppl 2).
3. Callaghan MU, Negrier C, Paz-Priel I, et al. Long-term outcomes with emicizumab prophylaxis for hemophilia A with or without FVIII inhibitors from the HAVEN 1-4 studies. Blood. 2021;137(16):2231-2242. doi:10.1182/blood.2020009217
4. Srivastava A, Santagostino E, Dougall A, et al. WFH Guidelines for the Management of Hemophilia, 3rd edition [published correction appears in Haemophilia. 2021 Jul;27(4):699]. Haemophilia. 2020;26 Suppl 6:1-158. doi:10.1111/hae.14046
5. Bundesärztekammer: Querschnitts-Leitlinien (BÄK) zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten – Gesamtnovelle 2020
6. S2k-Leitlinie Synovitis bei Hämophilie, Langfassung, 2., aktualisierte Auflage 2022 (zuletzt abgerufen am 30.06.23 von: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/086-005)