Shared Decision Making – höhere Lebensqualität durch offene Kommunikation und vertrauensvolle Zusammenarbeit  

Shared Decision Making – höhere Lebensqualität durch offene Kommunikation und vertrauensvolle Zusammenarbeit  

„Shared Decision Making (SDM)”, die gemeinsame Entscheidungsfindung, spielt auch in der Hämophilie-Therapie eine immer größere Rolle. Einer der Vorteile besteht darin, dass Patienten eine gemeinsam getroffene Entscheidung besser verstehen und umsetzen können. Zum Thema SDM bei Hämophilie haben wir Professor Langer interviewt. 

Info

Prof. Dr. med. Florian Langer ist Facharzt für Innere Medizin mit der Schwerpunktbezeichnung Hämatologie und Internistische Onkologie sowie mit der Zusatzbezeichnung Hämostaseologie. Er leitet als Oberarzt den Bereich Hämostaseologie (Gerinnungsambulanz und Hämophilie-Zentrum) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE).

Was ist Shared Decision Making? Worin liegen die Vorteile für ärztliche Fachkräfte und Betroffene? 

Shared Decision Making (SDM) ist ein gemeinsamer Entscheidungsprozess auf Augenhöhe zwischen Patientinnen und Patienten einerseits und ärztlichen Fachkräften andererseits. Häufig sind weitere Berufsgruppen wie z. B. Pflegekräfte in den Prozess eingebunden. In der Medizin gibt es viele Situationen, in denen gleichwertige Therapieoptionen zur Auswahl stehen. Hier gilt es, die Patientinnen und Patienten strukturiert und objektiv über die Vor- und Nachteile aufzuklären und am Ende eine gemeinsame Entscheidung zu treffen. Offene Kommunikation und vertrauensvolle Zusammenarbeit sind Voraussetzungen für ein erfolgreiches SDM. 

Welchen Nutzen sehen Sie für das Gesundheitssystem? 

Eine therapeutische Maßnahme ist nur dann wirksam, sicher und kosteneffektiv, wenn sie von den Patientinnen und Patienten konsequent umgesetzt wird. Das heißt, dass Therapieadhärenz und Therapiepersistenz (Therapieverweildauer) für den Behandlungserfolg von entscheidender Bedeutung sind. Insbesondere nach Markteinführung neuartiger Therapiekonzepte profitiert das Gesundheitssystem nur dann, wenn die Compliance, also die Therapietreue der Patientinnen und Patienten, hoch ist. 

Kommt SDM in der Hämophilie bereits häufig zum Einsatz oder ist es ein eher neues Thema?  

Aus meiner Sicht wird der standardisierte Prozess des SDM in der Hämophilie-Versorgung noch nicht in der Breite umgesetzt. Natürlich werden die Patienten ausführlich über die verschiedenen Therapieoptionen aufgeklärt. Ein klassisches Beispiel sind die unterschiedlichen Möglichkeiten zur Blutungsprophylaxe bei schwerer Hämophilie. Diese Gespräche sind zeitintensiv und in der Regel nicht im Rahmen eines einzigen Patientenkontakts zu bewältigen. Die Vorkenntnisse der Patienten sind sehr unterschiedlich und die Therapieoptionen werden immer vielfältiger. Hier ist in Zukunft ein strukturiertes Vorgehen wünschenswert, zumal die Patienten in allen Regionen Deutschlands das gleiche Informations- und Behandlungsangebot erhalten sollten. 

Welche Erfahrungen haben Sie bereits mit SDM gemacht? Haben Sie schon selbst konkret erlebt, dass SDM die Arzt-Patienten-Kommunikation und -Beziehung verbessert? 

Bei uns am UKE werden in verschiedenen Fachbereichen wissenschaftliche Projekte zum SDM durchgeführt. Aus diesem Grund ist das Thema durchaus präsent. Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass Patientinnen und Patienten nach einem ausführlichen Informationsgespräch mit sorgfältiger Abwägung von allen Vor- und Nachteilen nicht nur sehr dankbar sind, sondern die gemeinsam getroffene Therapieentscheidung auch besser verstehen und umsetzen können. Leider ist der Klinik- und Praxisalltag für diese zeitintensiven Entscheidungsprozesse noch nicht optimal ausgerichtet. Das gilt aus meiner Sicht auch für die Vergütung der Behandlungseinrichtungen. 

Bemerken Sie einen Unterschied bei Ihren Patientinnen und Patienten, z. B. bei der Patientenzufriedenheit, der Adhärenz oder im therapeutischen Outcome? 

Nur wenn eine Patientin oder ein Patient zu 100 Prozent von einer therapeutischen Maßnahme überzeugt ist, wird er diese auf lange Sicht konsequent umsetzen. Dies gilt insbesondere für therapeutische Maßnahmen, die für die Patientin oder den Patienten mit einem gewissen zeitlichen oder praktischen Aufwand oder belastenden Nebenwirkungen verbunden sind. Meine persönliche Erfahrung zeigt, dass zufriedene Patientinnen und Patienten eine höhere Therapietreue aufweisen, was sich positiv auf das Behandlungsergebnis auswirkt. 

Wie sieht es im weiteren Verlauf der Erkrankung bzw. der Therapie aus? Entscheiden Sie gemeinsam mit Ihren Patientinnen und Patienten, ob eine Therapie umgestellt werden muss? Kommen Ihre Patientinnen und Patienten auch von selbst auf Sie zu? 

Hier gibt es ganz unterschiedliche Szenarien. Wenn wir ärztlichen Fachkräfte Fehlentwicklungen sehen, z. B. was die konsequente Umsetzung der Blutungsprophylaxe bei schwerer Hämophilie angeht, muss die Patientin oder der Patient zeitnah aktiv angesprochen werden. In dieser Situation gilt es, den Blutungsschutz kurzfristig zu verbessern, um den Behandlungserfolg langfristig nicht zu gefährden. Ich denke, dass hier die durchaus autoritäre Überzeugungskraft des ärztlichen, pflegerischen und physiotherapeutischen Fachpersonals weiterhin eine große Rolle spielt. Es gibt jedoch auch Situationen, in denen wir aus ärztlicher Sicht mit einer laufenden Therapie zwar sehr zufrieden sind, die Patientin oder der Patient aber aus ganz unterschiedlichen Beweggründen eine Umstellung wünscht, z. B. weil sie oder er eine andere Applikationsart bevorzugt oder von einem neuartigen Wirkmechanismus überzeugt ist. In jedem Fall sollten alle Patientinnen und Patienten im Rahmen ihrer jährlichen oder halbjährlichen Routineuntersuchungen über neue Entwicklungen in der Hämophilie-Therapie informiert werden.  

Patientinnen und Patienten können sich heute umfangreich über Therapiemöglichkeiten online informieren und auch Entscheidungshilfen nutzen. Schätzen Sie das für eine gemeinsame Entscheidungsfindung als förderlich ein? 

Kein digitales Informationsangebot ersetzt das persönliche Arzt-Patienten-Gespräch. Es ist jedoch sehr hilfreich, wenn sich die Patientin oder der Patient im Vorfeld bereits objektiv informiert und eine eigene Meinung gebildet hat. Dann können im persönlichen Gespräch offene Fragen zielgerichtet geklärt und Themen weiter vertieft werden. Wichtig ist, dass digitale Informationsportale und Entscheidungshilfen vollständig und ausgewogen sind. Sie sollten nach Möglichkeit zudem für das SDM validiert worden sein. 

Welche Schwerpunkte sind beim SDM und der Behandlung von erwachsenen Hämophilen besonders wichtig?  

Am wichtigsten ist der Schutz vor Blutungen. Ziel muss sein, dass unter einer Prophylaxe keine spontanen Gelenkblutungen und keine anderen therapiebedürftigen Blutungen mehr auftreten. Die Transition vom Jugend- in das Erwachsenenalter stellt für den Erfolg der Prophylaxe einen kritischen Moment dar. Hier sollten alle Therapieoptionen neu evaluiert werden, um eine optimale Therapieadhärenz und -persistenz zu gewährleisten. Auch ältere Patienten, die bisher eine Bedarfsbehandlung erhalten haben, profitieren von einer Prophylaxe, um lebensbedrohliche Blutungen zu verhindern und die muskuloskelettale Gesundheit zu verbessern. Bei fortgeschrittener Arthropathie stehen häufig verschiedene Therapieoptionen zur Verfügung, z. B. operativer Gelenkersatz versus Gelenkversteifung versus konservative Therapie. Dies sind einige Schwerpunkte in der Versorgung von erwachsenen Patienten mit Hämophilie, bei denen SDM eine große Rolle spielt. 

Gibt es auch Betroffene, die sich lieber nicht an der Therapieentscheidung beteiligen wollen? Wie gehen Sie mit diesen Patienten um? 

Einige Patientinnen und Patienten scheuen die intensive Auseinandersetzung mit ihrer Bluterkrankheit und meiden daher den Kontakt mit den Behandlungszentren. Andere Patientinnen und Patienten vertrauen allein auf die Empfehlungen der ärztlichen Fachkräfte und favorisieren einen patriarchalischen Führungsstil und autoritären Entscheidungsprozess. Es ist zunächst wichtig, die Hintergründe für eine gestörte Arzt-Patienten-Kommunikation zu verstehen. Digitale Informationsportale und der persönliche Austausch im Rahmen von Selbsthilfegruppen können hier hilfreich sein. 

Bemerken Sie einen Unterschied in der Lebensqualität von Patientinnen und Patienten mit oder ohne SDM – entweder von den Patientinnen und den Patienten wahrgenommen oder objektiv beurteilbar, z. B. anhand von Blutungsereignissen und Gelenkgesundheit? Hat SDM einen Einfluss auf die Lebensqualität? 

Es ist davon auszugehen, dass sich SDM positiv auf die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten auswirkt. Einerseits, weil diese aufgrund des gemeinsamen Entscheidungsprozesses zufriedener mit der Behandlung sind. Andererseits, weil die gesteigerte Akzeptanz positive Effekte auf die Umsetzung der Prophylaxe mit Reduktion von Blutungsereignissen, verbesserter Gelenkgesundheit und gesteigerter Teilhabe am sozialen Leben hat. 

Wie könnte man Ihrer Meinung nach das SDM, die Kommunikation und die Zusammenarbeit zwischen ärztlicher Fachkraft und Patientin oder Patient noch verbessern? 

Wichtig ist zunächst die umfassende Aufklärung von allen Beteiligten über die Vorteile des SDM. Hierbei handelt es sich nicht um einen aus der Luft gegriffenen modernen Trend, sondern um einen wissenschaftlich fundierten, evidenzbasierten Prozess, der für das ärztliche und nichtärztliche Personal ein professionelles Training erfordert. 

Welche Erwartungen haben Sie an Ihre Patientinnen und Patienten im Hinblick auf SDM? 

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Viele erwachsene Patienten leben über Jahrzehnte mit ihrer Hämophilie, schätzen die etablierten Strukturen und zeigen daher eine gewisse Hemmung, ausgetretene Behandlungspfade zu verlassen. Auf den ersten Blick kann der Prozess des SDM überfordernd wirken, da der Patient jetzt aktiv eingebunden wird und mitentscheiden soll. Dies setzt Eigeninitiative und die Bereitschaft voraus, sich mit innovativen Ansätzen der Kommunikation und Entscheidungsfindung auseinanderzusetzen. 

Wie binden Sie das Umfeld der Patientinnen und Patienten (Angehörige, Freund:innen, evtl. Betreuungspersonen) mit ein? 

Eine vertrauensvolle Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen der Patientin und dem Patienten und dem ärztlichen und nichtärztlichen Personal des Behandlungszentrums sind für das SDM entscheidend. Sofern seitens der Patientin und des Patienten explizit gewünscht, können nahestehende Personen in den Entscheidungsprozess eingebunden werden.  

Welchen Herausforderungen bei SDM sehen sich die Behandelnden gegenüber? 

Der Prozess des SDM ist vergleichsweise neu und erfordert im Klinik- und Praxisalltag ein gewisses Umdenken. Professionelles Training ist zwingend erforderlich. Wir Ärztinnen und Ärzte müssen damit rechnen, dass im Rahmen des SDM die Entscheidung für eine Therapieoption getroffen wird, die bei einer konkreten Patientin oder einem konkreten Patienten am Anfang nicht zu unseren persönlichen Favoriten gezählt hat. SDM ist ein ergebnisoffener Prozess und beide Seiten sollten am Ende gut mit der Entscheidung leben können. 

Hast Du Fragen, Anregungen oder Kritik? Dann schreibe uns gerne eine E-Mail über das Kontaktformular. Wir melden uns schnellstmöglich zurück.

M-DE-00014743