Bessere Gesundheit durch Prophylaxe

Bessere Gesundheit durch Prophylaxe

Du bist jung. Du bist gesund. Du fühlst Dich wohl in Deiner Haut. Deiner Hämophilie wirst Du Dir nur manchmal bewusst. Die paar blauen Flecken dann und wann sind nix Wildes und zur Not kannst Du ja was Faktor spritzen.

Gedanken wie diese sind nichts Ungewöhnliches bei Menschen mit chronischen Krankheiten. Es gibt sogar einen Namen dafür: „Disability Paradox“. Auf Deutsch übersetzt bedeutet das so viel wie „Behinderungs-Widerspruch“. Das Disability Paradox besagt, dass Menschen mit einer Behinderung, wie einer chronischen Krankheit, glücklicher sind als es Menschen ohne Behinderung vermuten würden.1

Das Disability Paradox

Das Disability Paradox“ beschreibt ein Phänomen, bei dem Menschen mit Einschränkungen oder Behinderungen ein hohes Maß an Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden erleben, obwohl sie von Herausforderungen und Einschränkungen gefordert werden.

Der Begriff weist auf einen scheinbaren Widerspruch zwischen der objektiven Schwere der Behinderung und der subjektiven Lebenszufriedenheit hin. Menschen mit schweren Behinderungen oder Einschränkungen können daher ein erfülltes und positives Leben führen, während andere, die keine offensichtlichen Einschränkungen haben, unzufrieden sein können.

Das Disability Paradox in der Hämophilie:

Auch Menschen mit Hämophilie passen sich an ihren Behinderungsgrad an und geben oft eine bessere Lebensqualität im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung an. Dies zeigte eine Studie aus den USA1, in der 1.327 Teilnehmer mit Hinblick auf die Bewertung ihrer Lebensqualität befragt wurden – darunter auch 177 Hämophile. Die Ergebnisse deuten auf das Vorhandensein dieses Disability-Paradoxons auch bei Hämophilie-Patienten hin:

Vermutlich tragen mehrere Faktoren zum Disability Paradox bei. Dazu gehören:

Anpassungsfähigkeit: Menschen mit Beeinträchtigungen zeigen oft eine hohe Anpassungsfähigkeit und entwickeln Bewältigungsstrategien, um mit ihren Herausforderungen umzugehen und ihr Leben bestmöglich zu gestalten.

Gemeinschaft und soziale Unterstützung: Eine starke soziale Unterstützung durch Familie, Freundinnen und Freunde, Gemeinschaften oder Selbsthilfegruppen kann eine wichtige Rolle spielen, um das Wohlbefinden von Menschen mit Behinderungen zu fördern.

Neubewertung von Werten und Prioritäten: Menschen mit Behinderungen können ihre Werte und Prioritäten neu bewerten und sich auf Aspekte des Lebens konzentrieren, die für ihr persönliches Glück und Wohlbefinden von größerer Bedeutung sind.

Resilienz: Die Fähigkeit, Rückschläge zu überwinden und sich an neue Situationen anzupassen, kann dazu beitragen, dass Menschen mit Behinderungen widerstandsfähiger werden und sich besser auf positive Aspekte ihres Lebens konzentrieren.

Es ist wichtig anzumerken, dass nicht alle Menschen mit einer Behinderung automatisch ein hohes Maß an Lebenszufriedenheit erleben. Das Disability Paradox ist vielmehr ein Konzept, das verdeutlicht, wie es vielen Menschen mit Behinderungen gelingt, ein erfülltes und bedeutungsvolles Leben zu führen.

Wenn Du Dich mit Deiner Hämophilie gut fühlst und Dich nicht von ihr herunterziehen lässt, ist das genau richtig. Man wünscht es allen Betroffenen. Aber es birgt eine Gefahr, nämlich die, dass Du Deine Blutungen zu sehr auf die leichte Schulter nimmst.

Leichtigkeit birgt auch Risiken

„Welche Gefahr?“ fragst Du. Wenn es mal zu kleineren oder größeren Verletzungen kommt, kannst Du sie doch einfach wegspritzen! Das stimmt. Wenn es zu einer Blutung kommt, kann eine Dosis Faktor für einen Stopp der Blutung sorgen und schon bald scheint es, als wäre nichts gewesen. Das ist allerdings ein Trugschluss!

Die Medizin versteht immer deutlicher, dass jede Gelenkblutung zu einem dauerhaften Schaden führen kann. Dass Du schnell und richtig gehandelt und Dir eine ausreichende Menge Medikament verabreicht hast, ist dabei zweitrangig: Kommt es zu einer Blutung, leidet das Gelenk. Das ist auch dann der Fall, wenn die Schäden minimal sind und Du nach dem Rückgang der Blutung keinen Unterschied zu vor der Verletzung spürst.2

Wenn Du nur eine Gelenkblutung in Deinem Leben hast, wirst Du die Auswirkung dieses Schadens vermutlich niemals zu spüren bekommen. Aber mit jedem weiteren Schaden, den das Gelenk nimmt, steigt die Wahrscheinlichkeit für spätere Beschwerden.

Während Menschen mit schwerer Hämophilie A heutzutage meistens auf eine prophylaktische Dauertherapie setzen und sich der Risiken von Gelenkblutungen bewusst sind, ist das bei Menschen mit mittelschwerer Hämophilie nicht immer der Fall. Sie sehen sich mitunter nicht als jemand mit einer chronischen Erkrankung und sind daher nicht der Meinung, dass sie eine dauerhafte Therapie brauchen. Sie haben (zunächst) keine Schmerzen und wollen sich im freien Ausleben ihres Lebens, ihrer Hobbies und Wünsche nicht einschränken lassen. Eine Prophylaxe betrachten sie als Option, mit der sie sich vielleicht mal in späteren Jahren beschäftigen können.

Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse haben zu neuen Empfehlungen geführt

Mittlerweile wurde aber erkannt, dass diese Einstellung nicht selten zu kritischen Blutungen führt, die „weggespritzt“ werden müssen. Doch mit jeder Blutung können sich kleine Gelenkschäden ansammeln und zu größeren Schäden entwickeln. Die Empfindlichkeit des betroffenen Gelenks nimmt durch die häufigen Entzündungen zu und damit auch die Wahrscheinlichkeit, einen weiteren Schaden zu nehmen. Die akute Synovitis – die Entzündung der Gelenkinnenhaut –  kann eine chronische werden und zu Knorpelschäden führen. Schließlich schwindet der Knorpel und der Knochen selbst nimmt Schaden.2

Bessere Gesundheit durch Prophylaxe

Die unbehandelte mittelschwere Hämophilie ist die neue schwere Hämophilie

Solche Schäden sind es, die in späteren, aber potenziell noch sehr aktiven Lebensjahren, zu Schmerzen, Bewegungseinschränkungen und Einbußen in der Lebensqualität führen können. Ist es einmal so weit gekommen, kann eine prophylaktische Therapie Dir die Schmerzen und Einschränkungen nicht mehr ganz ersparen – nur eine weitere Verschlimmerung begrenzen. Daher empfehlen die Bundesärztekammer (BÄK)3 und die World Federation of Hemophilia (WFH)4 mittlerweile (seit 2020) auch für Menschen mit mittelschwerer Hämophilie eine prophylaktische Therapie – und zwar von der Jugend an und nicht erst, wenn irreversible Schäden entstanden sind.2

Der Nachteil: Eine regelmäßige Medikamentengabe ist nötig und führt möglicherweise zu dem Gefühl, dass man schwerer an einer chronischen Erkrankung leidet, als man wahrhaben will.

Der Vorteil: Ein sorgenärmeres Leben und keine oder zumindest deutlich weniger Schmerzen und Einschränkungen in späteren Jahren.

Die Prophylaxe ist der Goldstandard, um dies zu verhindern: Das Therapieziel lautet „Zero Bleeds“. Darunter versteht man eine (weitestgehende) Blutungsfreiheit durch Langzeitprotektion. Wenn dies gelingt und die Gelenkgesundheit erhalten bleibt, hast Du eine gute Chance, bis ins hohe Alter hinein ohne Hämophilie-bedingte Schmerzen und Einschränkungen leben zu können.

Das Ziel „Zero Bleeds“, ist überhaupt erst durch die Entwicklung neuer und besserer Therapieoptionen in den letzten Jahren denkbar geworden. Wie Du vielleicht schon gehört hast, gab es noch bis in die 1970er-Jahre keine verfügbaren Faktorkonzentrate und auch keine anderen Möglichkeiten, Hämophilie zu behandeln. Erst durch die molekulargenetischen Fortschritte der 1980er-Jahre wurden Faktorpräparate in den 1990er-Jahren einer größeren Zahl Menschen zugänglich. Verfügbarkeit und Sicherheit heutiger prophylaktischer Therapien sind somit eine echte Chance auf langfristige Blutungsfreiheit. 

Konstanter Schutz und Freiheit durch regelmäßige niedrigfrequente Medikamentengabe

Hast Du eine mittelschwere Hämophilie und entscheidest Dich für eine prophylaktische Therapieoption, bedeutet das für Dich mehr Freiheit: Du kannst deutlich mehr Aktivitäten nachgehen, ohne Dir allzu große Sorgen über Blutungen machen zu müssen – und auch ohne Dir jedes Mal überlegen zu müssen, ob Du präventiv Dein Medikament spritzen solltest.

Auch für Eltern eines mittelschwer-hämophilen Kindes bedeutet dies etwas weniger Sorgen, denn durch die prophylaktische Therapie ist das Kind gut vor Alltagsverletzungen bzw. vor deren schweren Auswirkungen für Hämophile geschützt.

Also gerade dadurch, dass Du Dich regelmäßig medizinisch versorgst, erreichst Du die Normalität, die nur beim akuten Wegspritzen eher ein Luftschloss ist. Betrachte es als Gesundheitsvorsorge oder als eine Art „Self Care“: Prophylaxe bedeutet gesündere Gelenke und damit ein gesünderes Leben.

Hast Du Fragen, Anregungen oder Kritik? Dann schreibe uns gerne eine E-Mail über das Kontaktformular. Wir melden uns schnellstmöglich zurück.

Quellen:

  1. O’Hara J, Martin AP, Nugent D, et al. Evidence of a disability paradox in patient-reported outcomes in haemophilia. Haemophilia. 2021;27(2):245-252. doi:10.1111/hae.14278
  2. S2k-Leitlinie Synovitis bei Hämophilie, Langfassung, 2., aktualisierte Auflage 2022 (zuletzt abgerufen am 30.06.23 von: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/086-005)
  3. Querschnitts-Leitlinien zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten der Bundesärztekammer. Gesamtnovelle 2020: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/_old-files/downloads/pdf-Ordner/MuE/Querschnitts-Leitlinien_BAEK_zur_Therapie_mit_Blutkomponenten_und_Plasmaderivaten-Gesamtnovelle_2020.pdf
  4. WFH Guidelines for the Managemenet of Hemophilia, World Federation of Hemophilia, 3rd Edition, Chapter 6: Prophylaxis in Hemophilia: https://www1.wfh.org/publications/files/pdf-1907.pdf