Erfahrungen mit Shared Decision Making im Hämophilie-Zentrum

Erfahrungen mit Shared Decision Making im Hämophilie-Zentrum

Ich bin Miriam und erzähle Euch hier regelmäßig über die Erfahrungen und Erlebnisse meines Mannes Rainer, der schwere Hämophilie A hat. Diesmal geht es um das Thema „Gemeinsame Entscheidungsfindung“, die Teilnahme an klinischen Studien und was Ärztinnen und Ärzte aus unserer Sicht für eine bessere Patientenkommunikation tun können.

Obwohl man von Shared Decision Making erst die letzte Zeit vermehrt liest und hört, wird es teilweise schon länger praktiziert, wenn auch unbewusst. Für Rainer war Shared Decision Making oder die „abgespeckte“ Variante davon meist sehr hilfreich, wenn er die Teilnahme an Studien angeboten bekommen hat, Therapien gewechselt hat oder Operationen anstanden.

Mit Ärztinnen und Ärzten gemeinsam und auf Augenhöhe die bestmögliche Therapie finden

Rainers erste Studien-Teilnahme war Anfang der 80er Jahre. Plasmatische Produkte sollten zum ersten Mal erhitzt werden, um sich darin evtl. befindliche Viren zu inaktivieren. Der damalige behandelnde Arzt informierte ihn und seine Eltern über die Studie und meinte, dass Rainer für diese Studie geeignet wäre. Die Entscheidung zu diesem Medikament traf Rainer gemeinsam mit seinen Eltern und dem Arzt.

Die zweite Studie war ein Umstieg auf ein rekombinantes, also gentechnisch verändertes Produkt. Rainer wurde im Hämophilie-Zentrum angesprochen, ob er an dieser Studie teilnehmen will. Obwohl noch nicht klar war, wie ein „künstliches Produkt“ im Körper reagiert, überzeugte Rainer die Tatsache, dass dieses Medikament noch sicherer war als das vorherige. Eine weitere Studie untersuchte ein neuartiges Hämophilie-Medikament. Rainer hat sich nach Beratung mit seinen Ärztinnen und Ärzten für dieses Produkt entschieden, weil es einen kontinuierlichen Schutz bot und in größeren zeitlichen Abständen gespritzt werden konnte. Drei weitere Studien liefen ähnlich. Mehr zu Rainers Studienteilnahmen berichte ich Euch gerne in einem meiner weiteren Blog-Beiträge.

Alle klinischen Studien wurden Rainer von seinen Ärztinnen und Ärzten im Hämophilie-Zentrum vorgestellt. Er hat sich mit ihnen über die Vor- und Nachteile des Studienproduktes ausgetauscht und konnte seine Fragen stellen. Mit diesen Informationen konnte er die Entscheidung für oder gegen ein Medikament treffen. Rainer hat an so vielen Studien teilgenommen, weil er gerne neue Therapien probieren wollte, die seine Lebensqualität verbessern könnten. Es kam aber auch außerhalb der Studien zu Medikamentenwechseln, wenn er ein Medikament beispielsweise nicht vertragen hat.

Die Entscheidung für oder gegen eine Therapie ist auch oft davon abhängig, in welchen Lebensumständen man lebt. Für Rainer war es ohne eigene Familie einfacher, eine Entscheidung zu treffen. Denn die Konsequenzen einer Therapieentscheidung betrafen nur ihn. Inzwischen betreffen die Folgen solcher Therapiewechsel auch die Familie. Auch dieser Aspekt ist Thema in den Beratungsgesprächen mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten.

Manchmal ist der Therapieweg steinig

Trotz aller Informationen und ärztlicher Unterstützung können auch mal Misserfolge auftreten. So war eine Studie weniger erfolgreich für Rainer. Es hat sich im Alltag herausgestellt, dass das Medikament, welches in dieser Studie getestet wurde, für Menschen mit Hämophilie und hämophiler Arthropathie nicht den nötigen Schutz bietet. Gemeinsam mit seinen Ärztinnen und Ärzten hat er beschlossen, das Medikament zu wechseln.

Es gab auch Situationen, in denen Rainer mit den Medizinerinnen und Medizinern über die Behandlung diskutiert hat, weil sie anders vorgehen wollten als er. Zum Beispiel, als es seinen Knie- und Fußgelenken sehr schlecht ging. In der Orthopädie des Hämophilie-Zentrums wollte man das rechte obere Sprunggelenk versteifen. Rainer konnte den behandelnden Arzt mit seinen Argumenten überzeugen, zuerst die Arthroskopie zu versuchen. Es funktionierte.

Manchmal hätte er sich auch mehr Informationsmöglichkeiten zu alternativen Behandlungsformen gewünscht. Die Kniearthroskopie am linken Bein, die ein anderer Arzt empfahl und durchführte, war weniger erfolgreich. Durch die Operation am Knie hat Rainer viel Kraft verloren, die sich bis heute nicht mehr so aufbauen ließ, wie vor der Operation. Heute würde er anders entscheiden und auch eine zweite ärztliche Meinung einholen.

Eigenverantwortung ist wichtig

In den Gesprächen im Hämophilie-Zentrum fragt Rainer seine Ärztinnen und Ärzte um Unterstützung, wenn es um medizinische Sachverhalte geht. Nach Jahrzehnten Therapieerfahrung hat er inzwischen seine eigenen Vorstellungen, wie er vorgehen möchte. Für ihn hängt das auch mit dem Leistungssport Schwimmen zusammen, den er gemacht hat. Dadurch kennt er seinen Körper und seine Grenzen inzwischen sehr gut.

Informierte und mündige Patienten sind seiner Ansicht für manche Ärztinnen und Ärzte nicht einfach, weil sie sich auf die manchmal andere Sichtweise der Patienten einlassen müssen. Mitunter ist es auch „medizinisches Neuland“ auf dem man sich bewegt, z. B., wenn Schmerzschübe auftreten oder wenn Medikamente Wirkungen zeigen, die bisher nicht bekannt sind oder bei anderen Hämophilie-Betroffenen nicht aufgetreten sind.

Meine Gedanken dazu: Es ist wichtig, dass Ihr wisst, was Euch hilft und was nicht. Welche Vorgehensweisen in Euer Leben passen oder was überhaupt nicht infrage kommt. Oder dass Ihr Euch Gedanken macht, was der zweitbeste Weg wäre, wenn der „beste Weg“ im Moment nicht möglich ist. Ihr seid Eure eigenen Experten, was Euren Körper, Euer Leben und die Hämophilie betrifft. Wenn die Therapie Euch nicht passt oder Ihr Euch nicht wohl fühlt, sprecht darüber mit Euren Ärztinnen und Ärzten sowie Therapeutinnen und Therapeuten.

Patientengerechte Kommunikation ausbauen und verbessern

Was die Kommunikation mit den Ärztinnen und Ärzten in seinem Hämophilie-Zentrum betrifft, hat Rainer das Gefühl, dass er mit seinen Fragen ernstgenommen und verstanden wird. Seiner Meinung nach nehmen sich die behandelnden Medizinerinnen und Mediziner die Zeit, Fragen zu beantworten und sich mit ihm auszutauschen, z. B. über Medikamente, Therapien, neue Studien oder allgemein, wie es im Alltag mit der Hämophilie läuft.

Dennoch wünscht er sich, dass Erklärungen und Informationen von ärztlicher Seite für Patienten und Laien verständlich sind. Nach seinen Erfahrungen ist es für Medizinerinnen und Mediziner herausfordernd, z. B. Laborwerte wie die Blutwerte oder die Gerinnung laienverständlich zu erklären. Auch wie medizinische Informationen weitergegeben werden, kann seiner Meinung nach kürzer und patientengerechter gestaltet werden. Rainer lässt sich oft eine Kopie geben, um die medizinischen Fachbegriffe im Internet nachzurecherchieren. Wenn er etwas nicht verstanden hat, findet er oft erst beim nächsten Termin Zeit, seine Fragen zu klären.

Was ihm auch wichtig ist, ist dass die psychologische Seite bei Menschen mit Hämophilie betrachtet wird. Zum Beispiel: Welche Auswirkung hat die Hämophilie auf das Leben im Allgemeinen und auch auf das soziale Leben? Wie verändert die Hämophilie den Menschen auf der psychischen Ebene? Dieses Thema wird bisher nach Rainers Meinung von ärztlicher und therapeutischer Seite sehr wenig thematisiert.

Wo kann man sich als Patient informieren?

Als Hämophilie-Betroffener könnt Ihr Euch vor Arzt- oder Therapeutenterminen auch schon selbst informieren. Dabei spielen die Patientenorganisationen eine tragende Rolle, die viele Informationen für Betroffene bereithalten. Rainer ist seit seiner Kindheit bei der DHG, erst über die Eltern, später selbst als Mitglied. Auch Hämophilie-Zentren bieten qualitativ hochwertige Beratung. Außerdem findet Ihr jede Menge Informationen auf Fachseiten im Internet und in den sozialen Medien. Je besser Ihr über Euren Körper und die Hämophilie Bescheid wisst, umso informierter könnt Ihr mit medizinischem und therapeutischem Personal sprechen.

Abschließend unsere Gedanken und Wünsche an Ärztinnen und Ärzte sowie Therapeutinnen und Therapeuten:

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