Amir* und ich kennen uns jetzt seit 2019. Wir lernten uns in einer orthopädischen Reha-Klinik kennen. Er war dort, da er mit 25 Jahren ein neues Knie bekommen hatte und ich, da ich frisch am Rücken operiert war. Erst später erfuhr ich, warum er schon in so jungen Jahren eine Knieprothese benötigte. Unser Kennenlernen geschah in der Nacht.
Ich konnte nicht schlafen und bat im Schwesternzimmer um eine Schlaftablette. Am Tresen stand bei der eindeutig schon länger pensionierten Nachtschwester ein junger, sehr schlanker Mann. Er sprach nur schlecht Deutsch und sagte immer nur, dass er blute. Die Schwester betrachtete ihn von oben bis unten, konnte aber nichts feststellen.
Dann sprach er davon, dass er „Fakto“ benötige, aber außer der Hämorrhoiden-Salbe mit ähnlich klingendem Namen, fiel der Nachschwester nichts dazu ein.
Erst als er sich an mich wandte und immer wieder auf seinen Ellbogen deutete mit dem Hinweis, er blute, ich aber auch nichts sah, kam ich darauf, dass er vielleicht innerlich bluten könnte. Nach schnellem Googeln war mir klar, dass er an Hämophilie leiden könnte und nicht „Fakto“ benötigte, sondern das Gerinnungsmittel Faktor VIII. Mit dieser Erkenntnis riefen wir einen Arzt und Amir* kam ins Krankenhaus, um ihn mit den notwendigen Medikamenten zu versorgen.
Ein Faktor, der Leben rettet
Ein paar Tage später erfuhr ich, dass es ihm besser ging und er die Reha fortsetzen konnte. Ich hörte seine Geschichte und staunte unter welchen Bedingungen er als „Bluter“ die Flucht aus Afghanistan nach Deutschland überstanden hatte. Ich war beeindruckt, mit welchem Willen er das alles geschafft hat und welches Risiko er eingegangen ist. Flucht ist eine Sache, die wir uns kaum vorstellen können, aber das Ganze mit dem Hintergrund einer chronischen Erkrankung ist noch mal etwas ganz anderes. Deshalb waren die Spritzen mit Faktor VIII das Wichtigste in seinem Gepäck. Der Rucksack mit den Spritzen durfte nicht verloren gehen, denn er wusste nicht, wann er das nächste Mal wieder Zugang dazu bekommen würde.
Ein neues Leben
Zum Zeitpunkt der Reha war er schon drei Jahre in Deutschland. Vieles kannte er trotzdem nicht und auch die Wassergymnastik lehnte er ab. Auf meine Frage warum, erzählte er mir, dass er keine Badehose besäße. Nachdem diese besorgt war, war an Wassergymnastik immer noch nicht zu denken. Erst dann fiel mir ein, dass er vielleicht noch nie zuvor im tiefen Wasser war. Wie sollte er auch, wenn er aus einem afghanischen Bergdorf stammte?
Krankheit in unterschiedlichen Kulturen
Dies und vieles mehr zeigte mir wieder deutlich, dass es nicht nur um die Kenntnis und das Begreifen von Krankheiten geht, sondern dass man Krankheiten auch in Zusammenhang von Kulturen sehen muss. Diagnosemöglichkeiten sind vielleicht schlechter vorhanden und auch der Zugang zu notwendigen Behandlungen ist nicht immer gegeben.
Als junger afghanischer Mann musste er zudem lange um seine Anerkennung als Flüchtling und ein Bleiberecht kämpfen. Hier wiederum hat ihm seine chronische Erkrankung vielleicht geholfen.
Ich habe ihn animiert, seine Geschichte öffentlich zu machen – auch etwas, das in seinem ursprünglichen Kulturkreis nicht selbstverständlich ist.
Den ersten Teil seiner Geschichte, der sein Leben in Afghanistan und den langen Weg bis zur Diagnose beschreibt, findet Ihr auch demnächst auf diesem Blog.
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*Name durch die Redaktion geändert
M-DE-00021168