Heute sind Menschen mit Hämophilie hierzulande medizinisch meist gut versorgt. Dass dies heute so ist, hat eine lange medizinische Geschichte. Am Anfang wurde nur dann gespritzt, wenn eine Blutung da war. Als Kind musste Rainer dafür in die nahegelegene Universitätsklinik. Das war Aufwand für die betreuende Person, die auch gleichzeitig andere Familienmitglieder zu versorgen hatte. Manchmal hat auch der Kinderarzt gespritzt. Da er auch ein anderes Kind mit Hämophilie betreute, hatte er sich Informationen über die Hämophilie besorgt. Das war etwas Besonderes. Damals wie heute konnte und kann man nicht davon ausgehen, dass alle Kinderärzte und Kinderärztinnen über eine seltene Erkrankung wie Hämophilie umfassend informiert sind.
Erstmalig Spritzen zu Hause möglich
1973, mit sieben Jahren, bekam Rainer die erste Prophylaxe – anfangs musste das Medikament jeden Tag gespritzt werden. Die Medikamente erhielten seine Eltern vom Hämophilie-Zentrum. Anschließend haben Rainers Eltern das Spritzen in einem Spritzkurs des Hämophilie-Zentrums gelernt. Zur gleichen Zeit fing auch die Heimselbstbehandlung an. Das war eine große Erleichterung für die Familie.
Das Medikament musste damals eine halbe Stunde langsam geschüttelt werden. Dieser Vorbereitungs-Aufwand lässt kreativ werden. Mit zehn Jahren hat Rainer nach einem Bauplan von einem anderen Hämophilen eine „Schüttelmaschine“ mit Komponenten von Fischertechnik gebaut. Diese Maschine hat das Schütteln immer mal wieder übernommen.
Höhere Sicherheit durch Erhitzen des Produkts in der ersten Studie
Rainers erste klinische Studie war Anfang der 80er Jahre. Inhalt dieser Studie war ein Plasmaprodukt, das erhitzt wurde. Plasmaprodukte sind Produkte, die aus dem Blutplasma von Spendern gewonnen wurden. Durch die Erhitzung sollten Hepatitis-Viren inaktiviert, also zerstört werden. Man stellte dann fest, dass mit dieser Methode auch HI-Viren inaktiviert wurden. Das war aufgrund der damals zahlreichen HIV- und Hepatitis-Infektionen bei Menschen mit Hämophilie ein großer Erfolg.
Rainer: „Das Hämophilie-Zentrum bekommt Vorgaben von den Pharma-Herstellern, dass sie Teilnehmende für eine Studie suchen, die bestimmte Bedingungen erfüllen. Die Personen, die in Frage kommen, werden vom Hämophilie-Zentrum angesprochen. Dem Zentrum ist wichtig, dass man bei den klinischen Studien zuverlässig ist. Dann überlegst Du Dir, ob Dir das Risiko einer Teilnahme an einer Studie wert ist. Da wägt man dann ab. Nachteile oder Nebenwirkungen aus vorherigen Phasen werden mitgeteilt. Alles andere weiß man einfach zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Da muss man selbst überlegen, ob einem das wert ist. In Phase-III-Studien hat man im Verlauf der Studie manchmal weitere Nebenwirkungen erfahren. Das heißt in der Praxis, dass man weitere Dokumente zur Kenntnisnahme unterschreiben muss, weil eine noch unbekannte Nebenwirkung dazugekommen ist. Das wird dann sehr engmaschig von den Ärztinnen und Ärzten im Hämophilie-Zentrum kontrolliert und man bespricht alles mit ihnen.“
Info
Phase-I-Studien sind Studien mit kleinen Patientenpopulationen von ca. 10-30 Personen. In der Regel wird dort eine neue Behandlung erstmals an gesunden Freiwilligen eingesetzt. Ausnahmen bilden hier onkologische Studien, bei denen nur Erkrankte teilnehmen dürfen. Man prüft Verträglichkeit und Sicherheit des neuen Medikaments. Phase-II-Studien sind mit meist 100 bis 300 Teilnehmenden etwas größer – abhängig von der Häufigkeit der Erkrankung. Mit betroffenen Patientinnen und Patienten wird die optimale Dosierung erforscht und untersucht, wie das Medikament wirkt. Phase-III-Studien sind große Studien und geben Auskunft über Wirksamkeit und Verträglichkeit. In Phase-IV-Studien ist das Medikament bereits auf dem Markt. Es können seltene Nebenwirkungen des Medikaments aufgezeigt werden, weil sehr viele Patientinnen und Patienten damit behandelt werden.
Höhere Sicherheit durch gentechnisch verändertes Produkt
Die zweite klinische Studie für Rainer war 1989/1990 ein Umstieg auf ein rekombinantes, also ein gentechnisch verändertes und künstlich im Labor hergestelltes, Produkt. Der Arzt im Hämophilie-Zentrum hat Rainer angesprochen, ob er das Produkt innerhalb der Studie testen möchte. Rainer hat in dieser Studie die Möglichkeit gesehen, von der Gefahr wegzukommen, Viren über das Blut zu bekommen. Deshalb hat er sich für diese Studie entschieden, auch wenn man damals noch nicht wusste, wie der Körper auf ein „künstliches Produkt“ reagiert. Im Verlauf der Studie stellte man fest, dass man im Gegensatz zu den plasmatischen Produkten eine höhere Dosis benötigte.
Die dritte klinische Studie, 2010 war eine erweiterte Studie des rekombinanten Produktes.
Rainer: „Während der Studien muss man öfter ins Hämophilie-Zentrum. Es ist wichtig, dass man zu den festgelegten Zeiten im Zentrum erscheint. Ich war am Anfang einer Studie für vier Wochen jede Woche dort, dann jeden Monat und später alle zwei Monate. Normalerweise, also außerhalb einer Studie, bin ich pro Quartal einmal im Hämophilie-Zentrum. Bei den Untersuchungen während der Studie wird der Blutdruck gemessen, das Gewicht überprüft und eine Blutprobe abgenommen. Es wird das Gerinnungsblutbild angeschaut, Puls und Temperatur gemessen, die Gelenke werden kontrolliert, ein EKG gemacht und ggf. muss man eine Urinprobe abgeben.
Im Gespräch wird nach besonderen Verletzungen gefragt, die man seit dem letzten Besuch hatte oder ob etwas anderes Auffälliges war. Es wird nach Gemüts-, Schmerz- und Bewegungszustand gefragt und ob sich etwas verbessert hat seit Beginn der Studie. Man bekommt mehrere Fragebögen zum Ausfüllen. Dafür bekommt man ein Tablet oder füllt die Bögen über eine App aus.“
Studie abgebrochen wegen starker Nebenwirkungen
Rainers vierte Studie im Jahr 2012 war ein rekombinantes Produkt eines anderen Herstellers. Der Vorteil dieses Medikaments zum vorherigen war eine höhere Wirkung, und es war eines der ersten Halbwertszeit-verlängerten Produkte. Bisherige Medikamente boten ca. zwölf Stunden einen guten Schutz, aber die Wirkung reduziert sich über die Dauer. So hat man am Anfang beispielsweise eine Gerinnung von 40 Prozent, nach zwölf Stunden sind es dann nur noch 20 Prozent, nach weiteren zwölf Stunden nur noch zehn Prozent. Wenn der Wert zu niedrig wurde, musste wieder gespritzt werden, um die Gerinnungsfähigkeit des Blutes zu erhöhen.
Nach ca. sechs Monaten hat Rainer diese Studie nach Besprechung mit den Ärztinnen und Ärzten im Hämophilie-Zentrum abgebrochen. Das Produkt hatte bei ihm starke Nebenwirkungen. Ihm wurde jedes Mal nach einiger Zeit schlecht, nachdem er sich gespritzt hatte.
Medikamenten-Dosis nicht ausreichend bei hämophiler Arthropathie
Das Medikament, das in Rainers fünfter Studie getestet wurde, hatte den Vorteil, dass es nur einmal die Woche gespritzt werden musste. Ein weiterer Vorteil war der dauerhafte Schutz. Es gab keine Halbwertszeit von zwölf Stunden. Allerdings musste die Dosis während der Studie bei Rainer erhöht werden. Es zeigte sich, dass die Dosis, die im Vorhinein ausgerechnet wurde, bei ihm nicht reichte. Er hat während der klinischen Studie Blutungen bekommen. Noch während der Studie bekam Rainer auf Antrag beim Hersteller die doppelte Dosis. Es ging ihm gut damit. Als die Studie beendet war und das Produkt auf dem Markt eingeführt wurde, stellte sich heraus, dass mehrere Menschen mit Hämophilie und gleichzeitiger starker hämophiler Arthropathie die gleichen Probleme wie Rainer hatten.
Da die Studie nun beendet war, waren ab dann die Krankenkassen für die Therapiekosten zuständig. Von den Krankenkassen wäre wieder nur die frühere, niedrigere Dosis für Rainer bezahlt worden. Im Hämophilie-Zentrum überlegten Rainers Ärztinnen und Ärzte, bei der Krankenkasse einen Antrag zu stellen, dass die doppelte Dosis bezahlt würde. Zu diesem Antrag kam es aber nicht mehr.
Nur noch einmal im Monat spritzen
Denn in der Zwischenzeit wurde Rainer eine neue Studie vom Hämophilie-Zentrum vorgestellt. Dies ist nun seine sechste klinische Studie. Dieses Mal sollte eine nicht-Faktor-VIII-Therapie getestet werden. Für diese Studie gab es zwei Gruppen, die sich nur in der Häufigkeit der Medikamentengabe unterschieden. Das Los entschied, welche Studienteilnehmenden in welche Gruppe eingeteilt wurden. Rainer hatte die Hoffnung, in die Gruppe mit dem größeren Spritz-Intervall eingeteilt zu werden. Und so kam es auch. Seit Studienbeginn hat er das Gefühl, dass sich seine Gelenke beruhigen und die Entzündungen weggehen.
Rainer: „Die Entscheidungen für eine klinische Studie habe ich meist relativ schnell getroffen, wenn ich einen Vorteil für mich darin gesehen habe. Manchmal habe ich hinterher etwas gezweifelt, ob ich die Entscheidung nicht zu schnell getroffen habe. Heute denke ich, wenn ich zu lange überlegt hätte, hätte ich wohl nie an den Studien teilgenommen. Ich hatte den Mut zu etwas Neuem. Und da war auch die Neugier, eine neue Therapie auszuprobieren.“
Unsere Einschätzung zu Studienteilnahmen
Als Fazit lässt sich sagen, dass Rainer die Teilnahme an Studien immer als sicher empfunden hat und sie auch empfehlen würde, wenn sie für Euch in Frage kommen und Ihr die Möglichkeit dazu habt. Ihr könnt am medizinischen Fortschritt in der Behandlung der Hämophilie teilhaben und verbessert potenziell nicht nur Eure eigene Gesundheit und Lebensqualität, sondern auch die der anderen Menschen mit Hämophilie.
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Quelle:
https://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/wie-funktionieren-klinische-studien-6877.php
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