Shared Decision Making erhöht den Therapieerfolg und die Patientenzufriedenheit

Shared Decision Making erhöht den Therapieerfolg und die Patientenzufriedenheit

In diesem Interview spricht Frau Dr. Halimeh über „Shared Decision Making (SDM)“ bei Hämophilie A und ihre persönlichen Erfahrungen mit Betroffenen und deren Eltern.

Das Thema „Shared Decision Making (SDM)” nimmt einen immer größeren Raum in der Therapie von Erkrankungen ein. Betroffene werden in die Entscheidungsfindung miteinbezogen und bestimmen so selbst, welche Therapie sie erhalten. Auch in der Hämophilie-Therapie ist SDM auf dem Vormarsch. Wir haben mit Dr. Halimeh über Shared Decision Making bei Menschen mit Hämophilie A gesprochen.

Info

Dr. med. Susan Halimeh ist Fachärztin für Transfusionsmedizin, Hämostaseologie sowie Kinder- und Jugendmedizin im Gerinnungszentrum Rhein-Ruhr in Duisburg.

Frau Dr. Halimeh, wo liegen aus Ihrer Sicht die Vorteile von Shared Decision Making für die Behandelnden, für die Betroffenen und für das Gesundheitssystem?

Es ist wichtig, dass wir ärztlichen Fachkräfte den Betroffenen zuhören und sie in die Therapie miteinbeziehen. Wir sollten den Betroffenen nicht einfach vorschreiben, wie ihre Therapie auszusehen hat. Wir müssen die verschiedenen Therapieoptionen sowie die Vor- und Nachteile aufzeigen. Je mehr wir den Patientinnen und Patienten die Problematik einer Erkrankung und die Therapieoptionen erklären, desto mehr Verständnis entwickeln sie für die Erkrankung. Wenn wir die Patientinnen und Patienten in die Therapieentscheidung miteinbeziehen, erhöht sich die Chance auf einen Therapieerfolg. Zudem steigt durch SDM deutlich messbar die Patientenzufriedenheit, die wir mithilfe von Fragebögen erhoben haben.

Und von guter Adhärenz und hoher Patientenzufriedenheit profitieren natürlich auch wir ärztlichen Fachkräfte – auch wenn es für uns einiges an Mehraufwand bedeutet, der nicht immer vergütet wird. Auch das Gesundheitssystem hat dadurch einen Vorteil: Die Blutungstendenz sinkt und somit auch die Kosten, die ein Hämophilie-Patient verursacht.

Hat Shared Decision Making direkte Auswirkungen auf die Adhärenz der Hämophilie-Betroffenen?

Ja, weil ich die Betroffenen und ihre Bedenken ernst nehme. Ich frage sie nach ihrer Einschätzung und halte mich daran. Ein Beispiel dafür ist die Häufigkeit des Spritzens. Wenn eine betroffene Person sagt, dass ihr eine bestimmte Anzahl zu viel oder zu wenig ist, dann akzeptiere ich das – auch wenn ich das vielleicht anders sehe. Manchmal ändern Betroffene auch nach einer Woche ihre Meinung und dann ändern wir die Therapie. Wir probieren erst einmal aus, was wirklich zu der Person passt. Dadurch, dass ich ihnen nicht vorschreibe, welche Therapie wir anwenden, sondern sie mit einbeziehe und ihre Ängste ernst nehme, habe ich eine viel höhere Adhärenz bei meinen Patientinnen und Patienten.

Wie sieht Shared Decision Making bei der Therapie von Kindern aus? Ab welchem Alter können sie selbst entscheiden und welche Rolle spielen die Eltern bei der Therapieentscheidung?

Ich beziehe Kinder in die Therapieentscheidung mit ein – oft auch schon vor dem Schulalter. Oft entwickeln die Kinder schon selbst ein Gefühl dafür, wann sie eine Spritze brauchen und wann nicht. Auch wenn die Eltern bei manchen Entscheidungen erst mal protestieren, so zahlt es sich aus, die Bedürfnisse des Kindes ernst zu nehmen und es mitentscheiden zu lassen. Es muss lernen, seinen Körper zu spüren und kann dann selbst entscheiden, wie oft es spritzen will und muss – schließlich entscheidet auch das Kind, ob es heute mit den Freunden tobt oder ob es auf der Couch entspannt. Ich nehme die Kinder früh mit in die Verantwortung der Therapieentscheidung, denn im Endeffekt ist es das Kind, was sich mit seiner Therapie sicher fühlen muss. Das mache ich auch den Eltern deutlich: Nicht ich oder sie entscheiden über die Therapie des Kindes, sondern das Kind selbst – schließlich ist das Kind die Patientin oder der Patient.

Manche Untersuchungen wie Blutabnahme oder physiotherapeutische Untersuchungen machen wir auch bewusst ohne die Eltern. So kann man dem Kind auch mal eine Frage stellen, ohne dass sofort die Eltern einspringen, wenn das Kind nicht sofort antwortet. Manchmal muss das Kind auch kurz über die Antwort nachdenken, aber die Eltern ertragen die Stille nicht und antworten dann für das Kind. Sind die Eltern aber mal nicht dabei, antwortet das Kind interessanterweise sehr professionell. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt: Wir müssen den Kindern Raum geben zum Antworten. Ihnen auch die Möglichkeit geben, in Ruhe über eine Frage nachzudenken und sie erst beim nächsten Termin zu beantworten oder sich auch erst dann an der Therapieentscheidung zu beteiligen. Wir dürfen sie auch nicht überfordern, sondern langsam darauf vorbereiten, dass sie mitentscheiden dürfen.

Wie gehen Sie mit Kindern um, die sich nicht sofort trauen, eigene Therapieentscheidungen zu treffen? Fordern Sie das aktiv ein?

Ja. Ein Beispiel ist zu lernen, sich selbst zu spritzen. Wenn ich frage, ob sie das Spritzen lernen möchten, dann kommt oft ein „Nein“. Dann sage ich aber, dass das nicht bedeutet, dass das Kind das jetzt allein machen muss. Da sind weiterhin die Eltern für zuständig. Es bedeutet nur, dass das Kind im Notfall auch selbst spritzen kann. Und sobald ich ihnen diese Option gebe, wollen sie es doch lernen. Das ist der entscheidende Punkt: Es geht darum, dass ich ihnen die Freiheit lasse, nicht Spritzen zu müssen – es aber trotzdem lernen können.

Wie läuft eine Therapieumstellung mit Shared Decision Making bei Ihnen ab?

Mittlerweile gibt es ein ganzes Spektrum von Faktor- und Nicht-Faktor-Präparaten. Ich spreche immer alle Therapieoptionen durch und erläutere Vor- und Nachteile. Aber es hängt auch davon ab, wie gut die Betroffenen ihre Hämophilie fühlen und wie gut sie einschätzen können, wann sie zusätzlich spritzen müssen. Wenn sie die Krankheit gut begriffen haben, dann haben wir gute Chancen, dass die Therapie einen guten Erfolg zeigt. Denn am Ende wollen wir, dass es den Betroffenen gut geht.

Wie gehen Sie damit um, wenn Betroffene mit einer genauen therapeutischen Vorstellung im Kopf zu Ihnen kommen? Beispielsweise, weil sie etwas online darüber gelesen haben? Und wie sehen Sie die Online-Tools zur Entscheidungshilfe, die immer häufiger im Internet zu finden sind?

Auch dann kläre ich über alle Therapieoptionen auf. Wenn die oder der Betroffene auf eine bestimmte Therapie besteht, dann begleite ich sie oder ihn, auch wenn ich damit nicht hundertprozentig einverstanden oder überzeugt bin. Denn es ist meine Aufgabe als Ärztin, meine Patientinnen und Patienten trotzdem zu begleiten und wenn es nicht funktioniert, sie dann aufzufangen. Und wenn es doch funktioniert hat, dann lasse ich mich gerne eines Besseren belehren. Zudem weiß man nie, ob eine Therapieentscheidung hundertprozentig funktioniert und was dabei rauskommt. Ich habe auch gar nicht den Anspruch, das so zu wissen. Ich muss immer mal wieder ein paar Schritte zurückgehen und mich kritisch beleuchten und auch meine Therapieentscheidung kritisieren.

Auch die Online-Therapietools unterstütze ich. Ich gucke mir das zusammen mit den Betroffenen oder den Eltern an und dann besprechen wir das Ergebnis des Tools und ich sage, was ich machen würde. Denn jeder Patient ist anders und bei jedem muss eine unterschiedliche Entscheidung getroffen werden. Am Ende des Tages sollte die Therapieentscheidung aber von der ärztlichen Fachkraft und der oder dem Betroffenen getroffen werden und nicht nur aufgrund eines Tools. Aber grundsätzlich halte ich das für eine gute Option als Baustein in der Entscheidungsfindung.

Gibt es bei Ihnen auch Patientinnen und Patienten, die nicht in der Lage sind, eine Therapieentscheidung mitzutreffen oder dies einfach nicht möchten? Wie gehen Sie mit diesen Personen um?

Ja, das gibt es auch. Diese Patientinnen und Patienten denken, dass ich die Entscheidungen treffen muss, weil ich die Ärztin bin. Dann mache ich es meistens so, dass ich die Entscheidung treffe und mit ihnen vereinbare, dass sie mir nach ein paar Wochen sagen, wie sie meine Entscheidung finden. So versuche ich, sie langsam an SDM heranzuführen, indem ich frage, ob die Therapie, die ich für sie ausgesucht habe, auch die Richtige für sie ist. Ich versuche, die Patientinnen und Patienten in die Verbindlichkeit mit reinzunehmen. Im Grunde gibt es also keine Therapieentscheidung bei mir, die vollkommen ohne SDM funktioniert.

Natürlich muss sich auch erst mal ein Vertrauensverhältnis aufbauen. Vielleicht traut sich die betroffene Person am Anfang nicht, etwas zu sagen, aber nach ein paar Monaten ist unser Verhältnis gut genug, dass sie oder er mir sagen kann, dass sie oder er meine Entscheidung nicht gut findet. Dann versuchen wir etwas anderes und ich halte ihr oder ihm nicht vor, warum sie oder er monatelang nichts gesagt hat. Denn jetzt hatte sie oder er den Mut, etwas zu sagen und das ist gut so.

Welche Anforderungen stellt Shared Decision Making an die ärztlichen Fachkräfte, aber auch an die Betroffenen?

Ärztliche Fachkräfte müssen kritikfähig sein und aushalten können, dass eine von ihnen getroffene Therapieentscheidung nicht richtig ist. Wenn sie das hinkriegen, dann ist das schon die halbe Miete. Und die Patientin oder der Patient darf sein Behandlungsteam auffordern, die Therapieentscheidung zu überdenken. Wir müssen es hinbekommen, dass eine Patientin oder ein Patient eine ärztliche Fachkraft kritisieren darf, ohne dabei Gefahr zu laufen, dass das Vertrauen gestört wird. Die Patientin oder der Patient ist letzten Endes in der schwächeren Situation und die ärztliche Fachkraft steht eine Stufe höher. Wir Fachkräfte müssen den Patientinnen und Patienten die Möglichkeit geben, mit uns auf Augenhöhe zu kommunizieren. Ihnen sagen: „Du darfst mich kritisieren, Du darfst mir jede Frage stellen, ohne meine Kompetenz infrage zu stellen.“ Das ist die eigentliche Kunst der guten Arzt-Patienten-Kommunikation, die SDM anstrebt.

Können Sie folgenden Satz für uns vervollständigen: „Für Shared Decision Making in der Hämophilie wünsche ich mir, dass…“

… ich mit Betroffenen, also mit dem Kind und den Eltern auf einer Augenhöhe sprechen dürfte.

Kommunikation ist ein sehr wichtiger Punkt. Es geht nicht nur darum, was gesagt wird, sondern auch wann und wie es gesagt wird. Ich sage den Eltern oft, wenn ich die Diagnose gestellt habe, dass sie mich 24/7 erreichen. Auch wenn es nur darum geht, dass sie gerade irgendwas verstehen wollen. Denn wenn ich den Eltern nicht die Möglichkeit gebe, mit mir über die einfachen Dinge zu kommunizieren, dann werden sie die entscheidenden Dinge auch nicht mit mir besprechen. Wenn sie in der Lage sind, einfache Dinge zu kommunizieren und zu formulieren, dann werden sie auch die komplexen Dinge mit mir diskutieren.

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