Von Afghanistan nach Deutschland – mein Lebensweg mit Hämophilie A

Von Afghanistan nach Deutschland – mein Lebensweg mit Hämophilie A

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle zuerst berichten, dass ich diesen Text nicht selbst geschrieben habe, sondern meine Freundin Ute. Sie hat mir erzählt, dass es diesen Active A Blog gibt und meinte, dass meine Geschichte sicher interessant für die Leserinnen und Leser dieses Blogs sei. Sie hat mich interviewt, und hier bin ich nun, obwohl man als Flüchtling nicht gerne allzu sichtbar ist und man in meiner Kultur sein Schicksal nicht offen kommuniziert. Themen wie Krankheit und Mitleid sind da etwas Privates, und man trägt es in der Familie aus.

Wie alles begann – meine Kindheit

Mein Name ist Amir*. Geboren bin ich in einer der 34 Provinzen Afghanistans in Kapisa. Das ist ein Dorf in den Bergen Afghanistans mit nicht einmal 1.000 Einwohnern. Afghanistan hat mit 40 Millionen etwa die Hälfte der Einwohner Deutschlands und ist damit kein kleines Land. Durch die Umstände in unserem Land, die Ihr sicher kennt, sind inzwischen 300.000 Afghanen geflüchtet. Ich bin einer von ihnen, und im Folgenden hört Ihr meine Geschichte.

Ich bin das erste Kind meiner Eltern und zwei Jahre später sollte meine Schwester geboren werden. Sie lebt heute im Iran, und wir haben uns viele Jahre nicht gesehen. Damals lebten wir in unserem kleinen Dorf Kapisa. Meine ersten Erinnerungen an meine Kindheit haben mit Nasenbluten zu tun. Alle wunderten sich, dass dieses Nasenbluten nie enden wollte. Bei gewöhnlichen Kinderspielen bekamen andere Kinder Schrammen und blaue Flecke. Bei mir waren die blauen Flecke aber immer gleich sehr ausgeprägt. Meine Eltern gingen mit mir zum Arzt in die Stadt, die eine halbe Stunde entfernt lag, aber auch der hatte keine Idee. Er verschrieb mir Schmerzmittel und Vitamine. Inzwischen habe ich gehört, dass Hämophilie heute schon während einer Schwangerschaft festgestellt werden kann. Eine Information, die meinen Eltern und mir viel Leid erspart hätte.

Von Afghanistan nach Deutschland – mein Lebensweg mit Hämophilie A

Der lange Weg zur richtigen Diagnose

Als ich mit den Jahren schlimme Schmerzen in meinen Knien und Ellenbogen bekam, reiste mein Vater mit mir in den Iran. Ich war damals 15 Jahre alt. Neben meinen Schmerzen fühlte ich mich sehr schwach. Man untersuchte mein Blut und diagnostizierte eine Leukämie. Man gab mir nur noch wenig Lebenszeit, und ich erinnere mich gut, wie traurig meine Eltern waren. Ich konnte kaum mehr laufen und mich nur unter Schmerzen bewegen. Meine Eltern wollten nicht an die Diagnose glauben und forschten weiter. In unserer Familie waren solche Fälle vorher nicht vorgekommen, sonst hätte man ja die Symptome gekannt.

Wie dankbar bin ich heute noch einem Freund meiner Eltern, der uns nach Islamabad, der Hauptstadt Pakistans schickte. Dort gäbe es Spezialisten. Und tatsächlich, hier konnte man mir nach einigen Untersuchungen sagen, an welcher Erkrankung ich leide, und ich hörte das erste Mal das Wort „Hämophilie“.

Ich bekam daraufhin Blutplasma und fing an, mich zu erholen. Die Behandlung ist nicht mit dem zu vergleichen, was heute hier eingesetzt wird, aber immerhin besser als nichts. Die medizinische Versorgung in Afghanistan war schon immer schlecht und ist, wenn man den Berichten glaubt, nun vor dem absoluten Zusammenbruch. Diagnose und Behandlung sind wegen fehlender Ressourcen unzureichend, und schon damals war die einzige Möglichkeit, im Iran oder in Pakistan Behandlungsmöglichkeiten zu suchen.

Mein Leben mit Hämophilie A in Kabul

Ans Sterben brauchte ich nicht mehr zu denken, und ich konnte ein halbwegs normales Leben führen. In 2009, als ich in Kabul lebte und dort in einer Bank arbeitetete, hatte ich einen Unfall mit einem Motorrad. Auch wenn die Verletzungen nicht so gravierend waren, so waren es die Einblutungen, speziell am Knie, die ich hatte. Wochenlang war ich so ans Krankenhausbett gefesselt.

Inzwischen wusste ich, dass die beste Hilfe für meine Erkrankung die Gabe von Faktor VIII wäre. Faktor VIII bekam ich aber nicht, sondern nur mehr oder weniger regelmäßig Bluttransfusionen. Denn auch damals herrschte schon ein großer Mangel in der medizinischen Versorgung. Und da war immer die Angst, dass ich mich durch diese Transfusionen mit noch etwas Zusätzlichem anstecken könnte. Ich versuchte, auf dem Schwarzmarkt Faktor VIII zu bekommen. Dort wurde ich auch fündig, aber die Spritzen stellten sich als Fälschung heraus. Ich weiß nicht, wie viele an Hämophilie Erkrankte in Afghanistan keine oder keine umfängliche Behandlung bekommen. Die Dunkelziffer ist gewiss hoch.

Aufbruch ins Ungewisse

Und in all den Wirren in unserem Land geschah das Unglaubliche. Meine Eltern wurden erschossen. Mein Vater besaß einen Tanklaster, und sein Erfolg war den Rebellen vor Ort ein Dorn im Auge. Er hatte sich geweigert, sie bei Waffentransporten zu unterstützen. Meine Tante informierte mich, warnte mich vor Blutrache und ich habe mich, ohne mich der Trauer um meine Eltern überlassen zu können, auf die Flucht begeben. Der einzige wichtige Inhalt meines spärlichen Gepäcks waren einige Spritzen Faktor VIII. Alle meine Ersparnisse hatte ich in diese Lebensversicherung investiert, und ich sollte sie unterwegs brauchen.

Aber wie dies alles geschah, wie ich im Hier und Jetzt gelandet bin und welche Hürden ich überwinden musste, ist Inhalt des nächsten Beitrags. Ich hoffe, es interessiert Euch und Ihr folgt dem Blog.

Ich besitze nichts aus meiner alten Heimat, keine Erinnerungsstücke und auch keine Bilder, die mich als Kind zeigen. Daher gilt es, alles, was einem wichtig ist, in seinem Herzen zu bewahren.

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*Name durch die Redaktion geändert

M-DE-00021169