Hämophilie und Lebensqualität – kennst Du die Zusammenhänge?

Hämophilie und Lebensqualität – kennst Du die Zusammenhänge?

Privatdozentin Dr. Sylvia von Mackensen ist Diplom-Psychologin am Institut für Medizinische Psychologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Bereits seit ihrer Diplomarbeit beschäftigte sich die Expertin in ihrer Forschung mit dem Thema „Lebensqualität“. Sie ist Mitglied des „Psychosozialen Komitees der World Federation of Hemophilia (WFH)“ und Mitherausgeberin der Fachzeitschrift „Haemophilia“.

Zitat

„An der Hämophilie können Betroffene nicht viel machen. Aber sie haben selbst in der Hand, wie sie damit umgehen: Positiv denken, Eigenverantwortung und der Austausch mit anderen Betroffenen können maßgeblich die Lebensqualität steigern.“

DR. VON MACKENSEN

Frau Dr. von Mackensen, Sie beschäftigen sich vor allem mit dem Thema „Quality of life“. Warum ist es so wichtig, dass dieses Thema weiter erforscht wird?

Die Bedeutung der Lebensqualität nimmt in der Medizin stetig zu und wird immer wichtiger für die Erfassung von Gesundheitsergebnissen. Besonders wichtig ist das Thema bei chronischen Erkrankungen wie der Hämophilie, weil die Lebensqualität nicht nur durch die Erkrankung, sondern auch durch ihre Behandlung beeinflusst werden kann. Relevant ist die Erfassung von Lebensqualität also auch, wenn neue Therapien auf den Markt kommen.

Wie wird Lebensqualität gemessen? Wie wird definiert, was ein wichtiger Aspekt für die Lebensqualität von Betroffenen ist?

Es gibt verschiedene Vorgehensweisen, um die Lebensqualität zu messen. Es gibt die Möglichkeit der qualitativen Erhebung mittels individueller Interviews oder die der quantitativen Erhebung, wenn man länder- oder zentrumsübergreifende Erhebungen durchführen möchte. Bei beiden bedient man sich sogenannter psychometrischer Fragebögen, die standardisiert eingesetzt und validiert sein müssen.

Bei der Fragebogenentwicklung ist die Patientenzentrierung sehr wichtig. Die relevanten Fragen zur Lebensqualität (sogenannte Items) werden von einem Betroffenen und den verantwortlichen Experten gemeinsam entwickelt. Das heißt, dass die Patienten bereits bei der Sammlung der Fragen in Form von Fokusgruppen involviert sind.

Dort werden die relevanten Aspekte, die für die Patienten im Zusammenhang mit ihrer Erkrankung wichtig sind, abgefragt. Diese Aspekte fließen in die Entwicklung des Fragebogens mit ein. Das Ganze wird dann im weiteren Verlauf durch Erkenntnisse aus Literatur- und Berichtsrecherche ergänzt. Danach erfolgt dann noch eine Testung der Inhalts-Validität. Da werden alle Fragen (Items), die man gesammelt hat, noch mal von den betroffenen Patienten und den Experten hinsichtlich ihrer Wichtigkeit im Zusammenhang mit der Erkrankung beurteilt. So nimmt man nur die Items in den finalen Fragebogen auf, die auch für die Patienten von großer Bedeutung sind.

Lange wurden nur messbare Werte zur Beurteilung der Therapiewirksamkeit herangezogen. Seit wann gibt es Bestrebungen, auch Faktoren wie z.B. psychische Befindlichkeiten oder individuelle Wünsche miteinzubeziehen?

In der Hämophilie hat man das erste Mal in den 90ern über Lebensqualität gesprochen. In den ersten Publikationen wurde das Thema Lebensqualität grob angerissen, nach dem Motto „Mit Prophylaxe geht es den Patienten hinsichtlich ihrer Lebensqualität besser.“

Dann kamen die ersten Studien zur Erfassung der Lebensqualität und erst seit ca. 20 Jahren gibt es krankheitsspezifische Instrumente, um die Lebensqualität zu erfassen. Wichtig ist dies, da diese Daten dazu beitragen können, die Behandlung zu optimieren, da man sieht, wo die Schwachstellen liegen – ganz besonders bei einer chronischen und auch so kostenintensiven Erkrankung wie der Hämophilie.

Ist es nicht überraschend, dass die Erhebung der Lebensqualität erst so spät im Bereich der Hämophilie angekommen ist?

Wir dürfen nicht vergessen, dass die Hämophilie eine sehr seltene Erkrankung ist und man froh war, dass es erst mal Therapie und Behandlungsmaßnahmen gab. Heutzutage haben Patienten dank der guten Therapieoptionen in den Industrieländern eine normale Lebenserwartung. Das war früher nicht so. Früher hatten Patienten ohne Therapie eine Lebenserwartung von ca. 20 Jahren.

Was bedeutet Lebensqualität für Menschen mit Hämophilie konkret? Welche Unterschiede sind zu erkennen zwischen Hämophilie-Betroffenen und nicht erkrankten Personen?

Die Lebenserwartung von Hämophilie-Patienten in Industrieländern, in denen eine gute Versorgung Goldstandard ist, hat sich der der Allgemeinbevölkerung angenähert. Auch die Lebensqualität dieser Patienten ist vergleichbar mit der der Allgemeinbevölkerung. Es zeigen sich aber immer noch stärkere Beeinträchtigungen bei Hämophilie-Patienten in den körperlichen Dimensionen: bei sportlichen Aktivitäten, Schmerzen und der körperlichen Gesundheit. Hier gibt es noch Unterschiede zur Allgemeinbevölkerung. Für Hämophilie-Patienten sind die größten Beeinträchtigungen Schmerzen und Funktionalitäts-Einschränkungen. Das sind sicherlich die Aspekte, die in der Lebensqualität für die Hämophilie-Patienten am bedeutendsten sind.

Gibt es spezifische Besonderheiten bei Patienten mit Hämophilie im Vergleich zu anderen chronischen Erkrankungen, was die Lebensqualität angeht?

Natürlich spielen die Form und die Häufigkeit der Therapie eine ganz wichtige Rolle in der Hämophilie. Die Patienten behandeln sich selbst zu Hause. Bei herkömmlichen Standardtherapien kann es sein, dass sich ein Patient dann circa 180-mal pro Jahr selbst intravenös spritzen muss. Das hat man so bei anderen chronischen Erkrankungen nicht.

Darüber hinaus müssen die Patienten laut Transfusionsgesetz sogenannte Substitutionskalender führen – sie müssen jedes Mal dokumentieren, wenn sie sich spritzen. Außerdem müssen sie regelmäßig zu Quartalskontrollen in ihr Hämophilie-Zentrum gehen. Teilweise haben diese Zentren ein Einzugsgebiet von 250 Kilometern. Das ist im Vergleich zu anderen chronischen Erkrankungen ein hoher Therapie-Aufwand.

Die Therapiefreiheit ist ein wichtiger Aspekt, wenn es um die Lebensqualität von Hämophilen geht. Gibt es weitere Dinge, die Menschen tun können, um ihre persönliche Lebensqualität zu steigern?

Natürlich wird die Lebensqualität nicht nur von der Krankheit und ihrer Behandlung beeinflusst, sondern auch von vielen persönlichen Merkmalen der Patienten, z. B. welche Bewältigungsmechanismen haben sie, wie gehen sie mit ihrer Erkrankung um oder welche Kontrollüberzeugungen haben sie? Patienten, die eine externale Kontrollüberzeugung haben, gehen eher davon aus, dass das Schicksal, Gott oder ihr Arzt für ihren Zustand verantwortlich sind, während Patienten mit einer internalen Kontrollüberzeugung davon ausgehen, dass man selbst verantwortlich ist und etwas für seinen Gesundheitszustand tun kann. Das ist als förderlicher anzusehen, denn Letztere werden eher körperliche Aktivitäten durchführen und versuchen, nicht fettleibig zu werden.

Die Lebensbedingungen und der sozio-ökonomische Status spielen auch eine große Rolle für die Lebensqualität. An der Krankheit können die Patienten nichts ändern, aber sie können ihre persönlichen Merkmale beeinflussen.

Welchen Einfluss haben Adhärenz und SDM (Shared Decision Making) auf die Lebensqualität, gerade bei älteren Betroffenen?

Die Lebensqualität nimmt mit zunehmendem Alter ab, unabhängig davon, ob eine chronische Erkrankung vorliegt oder nicht. Das ist sicherlich ein wichtiger Aspekt, den wir berücksichtigen müssen. Wenn wir ältere Hämophilie-Patienten betrachten, kommen dort im Alter zu der Grunderkrankung noch weitere altersbedingte Erkrankungen wie etwa kardiovaskuläre Erkrankungen oder Diabetes hinzu. Ältere Menschen haben ein erhöhtes Sturzrisiko, was bei einem an Hämophilie erkrankten Menschen fatal ist. All das wirkt sich zusammengenommen negativ auf die Lebensqualität aus.

Wenn wir uns jetzt die Adhärenz, also die Therapietreue anschauen, nimmt diese bei den älteren Patienten ebenfalls ab. Das hängt oft damit zusammen, dass ältere Patienten mehr Medikamente aufgrund mehrerer Erkrankungen nehmen müssen. Hier wird die Effektivität der Therapie nicht mehr unbedingt wahrgenommen und es werden häufiger Dosen ausgelassen. Häufig werden auch die Krankheitsfolgen nicht mehr wahrgenommen oder sie treten so stark in den Vordergrund, dass man davon ausgeht, dass nichts mehr hilft. Das Thema Adhärenz ist also ein großes Problem.

Aus diesem Grund wurde das Konstrukt der partizipativen Entscheidungsfindung (aus dem Englischen kommend: Shared Decision Making, kurz SDM; Anmerkung der Redaktion) implementiert. Das heißt, hier steht im Vordergrund, dass man mit dem Patienten zusammen versucht, eine geteilte Therapieentscheidung zu treffen und so zu einem besseren Adhärenz-Ergebnis kommt.

Jetzt ist es aber bei der partizipativen Entscheidungsfindung so, dass diese häufig von älteren Patienten gar nicht richtig angenommen wird. Diese sind oft noch in einem paternalistischen Modell groß geworden, was ihre Krankheitsgeschichte geprägt hat. Das heißt, dass hier alle Therapieentscheidungen vom Arzt getroffen wurden. Häufig fühlen sich ältere Menschen überfordert und haben Angst, etwas falsch zu machen, sodass sie die Entscheidung gerne an den Arzt abgeben. Partizipative Entscheidungsfindung ist etwas Tolles, aber man kann es nicht bei jedem Patienten anwenden. Man muss auch darauf achten, inwieweit der Patient bereit ist, eigene Entscheidungen mit einfließen zu lassen und sich auf das Konzept einzulassen.

Welche Rolle spielt die optimale Therapiewahl bei der Lebensqualität? Was können Gründe dafür sein, dass ein Mensch mit Hämophilie nicht die Therapie erhält, die am besten zu ihm und seinem Leben passt?

Ob Hämophilie-Patienten die optimale Therapie bekommen, ist natürlich von vielen Faktoren abhängig. Es gibt Länder, da haben die Patienten gar keinen Einfluss auf ihre Therapie, sondern das wird von oberster Stelle vom nationalen Gesundheitssystem entschieden. Dann kommt es auch darauf an, in welchem Hämophilie-Zentrum und von welchem Arzt man behandelt wird. Weil wir eben das Thema der partizipativen Entscheidungsfindung hatten: Ist der Arzt eher paternalistisch angehaucht in seinem Ansatz oder partizipativ und wie ist die Arzt-Patienten-Beziehung geprägt? Wenn der Arzt eher paternalistisch geprägt ist, wird er natürlich das, was er als gut empfindet, dem Patienten verordnen, ohne große Rücksicht darauf zu nehmen, wie die Präferenzen und Lebensumstände des Patienten aussehen. Deshalb ist es auch so wichtig, diese ebenfalls zu erfragen.

Viel hängt natürlich auch vom beruflichen Alltag ab: Übt man eine sitzende Tätigkeit aus? Muss man sehr viel reisen, wie sind die Freizeitaktivitäten? Spielt man eher Schach oder ist man eher beim Kraxeln in den Bergen am Wochenende? Diese Aspekte können jedoch nur vom Arzt berücksichtigt werden, wenn sie auch thematisiert werden. Wenn der Arzt diese Optionen mitberücksichtigt, hat dies auch einen Einfluss darauf, ob man die für sich optimale Therapie bekommt. Man muss seine Präferenzen aber auch selbst als Patient äußern.

Kann man einen zeitlichen Rahmen abstecken, in dem eine Therapieentscheidung in Bezug auf die Lebensqualität hinterfragt werden sollte? Sollte eine Überprüfung regelmäßig erfolgen?

Es sollten regelmäßige Erhebungen der Lebensqualität während der Routineuntersuchungen durchgeführt werden, um Veränderungen aufzuzeigen. Mir ist aufgefallen, dass viele Patienten nicht über alles von sich aus mit ihrem Arzt sprechen, weil sie viele Dinge einfach voraussetzen. Wir haben im Rahmen einer Studie einen Lebensqualität-Fragebogen erstellt, den der Patient gleich nach Ausfüllen mit dem Arzt besprechen konnte. Dort gab ein Patient starke Schmerzen an, die er dem Arzt gegenüber nie erwähnt hatte – mit der Begründung, er wäre Bluter und da wäre es doch klar, dass er Schmerzen hätte. Nicht alles wird von den Patienten berichtet, wenn nicht explizit danach gefragt wird. Da können standardisierte Fragebögen helfen, die diese Aspekte abfragen. Zudem sollten Veränderungen im Leben des Patienten und die Therapiezufriedenheit abgefragt werden, damit man sieht, an welchen Stellen der Patient nicht so zufrieden ist.

Inwiefern kann sich eine nicht-passende Therapie auch negativ auf die Psyche und die Lebensqualität der Betroffenen auswirken

Eine Therapie, die nicht passt, führt erst mal dazu, dass der Patient sie nicht befolgt, also nicht therapietreu ist. Man kann das wirksamste Medikament haben, aber dieses wirkt nicht, wenn es nicht eingenommen wird. Das ist die große Krux. Wenn ich eine Therapie habe, mit der ich nicht klarkomme, von der ich nicht überzeugt bin, bei der ich nicht die Vor- und Nachteile sehe, wird das dazu führen, dass ich sie nicht mehr nehme. Dann kann diese Therapie auch nicht wirken, und ich komme in eine Negativspirale: Es wird zu erhöhten Blutungsraten kommen etc. Die Patienten sind unzufrieden und es wird sich sowohl emotional als auch körperlich auswirken, wenn sie in ihrer Funktionalität beeinträchtigt sind. Ganz verschiedene Aspekte der Lebensqualität geraten dann in Mitleidenschaft.

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