Ich war 19 Jahre in derselben Firma, in der ich ohne Probleme bis zur Pension hätte bleiben können. Der Job war sicher, ich kannte die Abläufe, die Menschen und die Regeln. Man kannte mich, wusste, was ich leisten kann und auch, dass ich schwere Hämophilie habe. Trotzdem habe ich diesen vertrauten Rahmen verlassen. Nicht, weil ich musste, sondern weil ich es wirklich wollte.
Der Reiz des Neuen
Der Gedanke an Veränderung hat mich schon seit einer Weile begleitet. Die letzten Jahre waren von Routine geprägt. Ich hatte das Gefühl, dass alles einfach nur noch vor sich hinplätschert. Es fehlte die Herausforderung, die Motivation. Ich wollte nicht einfach die letzten Jahre bis zur Pension absitzen. Ich sehnte mich nach etwas Neuem, etwas, das mich wirklich reizt. Dennoch war es kein leichter Schritt – nicht in meinem Alter und erst recht nicht mit meiner Erkrankung im Gepäck.
Hämophilie ist nichts, was man einfach ablegen kann. Sie ist ein ständiger Begleiter in meinem Leben. Ich bin gut eingestellt und komme im Alltag zurecht, aber das Risiko bleibt. Blutungen können plötzlich auftreten, und ich muss gut überlegen, was ich mir zumute. Das ist kein Thema, das man im Bewerbungsgespräch leichtfertig anspricht. Ich hatte Angst. Angst, dass man mich deswegen nicht ernst nimmt. Dass ich als „Risiko“ wahrgenommen werde. Dass ich abgelehnt werde, nicht wegen meiner Qualifikation, sondern wegen meiner Erkrankung.
Der Neustart im Job – wie reagieren die Menschen in der neuen Firma auf die Hämophilie?
Trotzdem habe ich es gewagt. Ich habe mich beworben, Gespräche geführt, und irgendwann kam das Angebot. Ich habe es angenommen. Und mit dem ersten Arbeitstag kamen auch die Fragen: Wie wird das Team reagieren? Wie viel soll ich erzählen? Was passiert, wenn ich mal ausfalle? Ich habe mich entschieden, offen zu sein. Nicht dramatisch, aber ehrlich. Ich habe erklärt, was Hämophilie bedeutet, was ich brauche und worauf man achten sollte. So ist es für meine Arbeitskollegen auch kein Problem damit umzugehen.
Ich habe ein gutes Gespür dafür, wann der richtige Moment ist, das Thema anzusprechen – sei es im Gespräch mit einzelnen Kollegen oder auch in kleinen Gruppen. Ich erkläre es so, dass es verständlich, aber nicht alarmierend ist. Keine medizinischen Vorträge, sondern konkret was Hämophilie ist, was im Alltag zu beachten ist und warum ich manchmal Dinge anders handhabe. Je nach Gesprächsrichtung erwähne ich auch meine beidseitigen künstlichen Kniegelenke, die ich 2016/17 bekommen habe. Für viele ist das greifbarer als die Hämophilie selbst. Und für mich war es ein echter Wendepunkt, die neuen Gelenke haben mir zusätzliche Bewegungsfreiheit zurückgegeben, die ich lange nicht hatte. Sie ermöglichen mir nun, neben dem Fahrradfahren anders körperlich aktiv zu sein, Leistung zu bringen, meinen Alltag eigenständig zu gestalten. Ich will nicht nur funktionieren, ich will selbst bestimmen, wie ich lebe und arbeite. Und genau das mache ich.
Ich merke, dass die meisten damit gut umgehen können, wenn man es ruhig und sachlich erklärt. Stelle auch fest, dass meine Geschichte berührt, manche sprechen dies aus, und bei anderen kann ich es in ihrem Verhalten spüren. So oder so schafft meine Offenheit Klarheit und verhindert Missverständnisse.
Bis jetzt läuft alles gut. Ich wurde herzlich empfangen, und man behandelt mich mit Respekt. Doch die Angst bleibt. Nicht ständig, aber sie schwirrt im Hintergrund herum. Ich mache mir Gedanken, wenn ich eine Infusion benötige oder einen Arzttermin habe. Ich frage mich, ob sich das Bild von mir verändert, wenn ich mal ausfalle. Gleichzeitig spüre ich, dass ich gebraucht werde. Meine Erfahrung zählt. Ich bin hier nicht nur „der Neue“, sondern ein Teil des Teams.
Die Entscheidung war schwer – aber richtig
Der Wechsel war eine der schwierigsten Entscheidungen in meinem Berufsleben, aber auch eine der besten. Ich habe erkannt, dass es nie zu spät ist, etwas zu verändern. Man muss mit 58 Jahren nicht aufhören, sich weiterzuentwickeln. Und auch mit einer chronischen Erkrankung kann man aktiv bleiben und muss nicht auf der Ersatzbank sitzen. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt. Aber ich bin mir sicher: Ich habe diesen Schritt aus den richtigen Gründen gewagt. Und ich bin froh, dass ich den Mut dazu hatte.
Und auch sonst hat sich mein Alltag verändert. Der neue Arbeitsweg ist deutlich länger, insgesamt 64 Kilometer täglich. Wenn das Wetter mitspielt, fahre ich die Strecke mit dem E-Mountainbike. Kein gemütliches Radeln, sondern Bewegung mit Anspruch. Aber genau das brauche ich. Es fordert mich körperlich, macht den Kopf frei und gibt Struktur. Für mich ist das mehr als nur der Weg zur Arbeit, es ist Teil meines neuen Lebensgefühls: aktiv, selbstbestimmt, nicht auf Sparflamme.
Natürlich muss ich aufpassen und darf nichts übertreiben, aber ich will auch nicht permanent auf der Bremse stehen. Ich bestimme das Tempo. Und im Moment fühlt sich das genau richtig an.
Nachtrag: Heute hatte ich mein Probezeitgespräch und ich wurde fest eingestellt. Ich bin glücklich und sehr stolz auf mich. Meine Fähigkeiten, meine Arbeit und meine Persönlichkeit wurden positiv bewertet. Und die Hämophilie? Die war kein Thema.
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