Was sich – zugegebenermaßen zu meiner Freude – sechs Jahre lang als völlig unbedeutend zeigte, stellte sich von einer Sekunde auf die andere als ganz groß werdende Leidenschaft heraus. Mit der ersten Schulwoche und den neuen Klassenkameraden aus dem Nachbarort war die Begeisterung für den Fußball, die stetig wuchs, nicht mehr zu bremsen. In jeder Pause, vor Schulbeginn und beim Warten auf den Schulbus wurde nur noch gebolzt. Auch kein noch so ausgefallener Spielplatz war mehr interessant. Nur noch eines: der Ball. Das, was wir als Eltern eigentlich vermeiden wollten, wurde zur größten Herausforderung für die ganze Familie. Dieses Hobby, das mit zunehmendem Alter schon für gesunde Menschen viele Verletzungen mit sich bringen würde, erschien uns viel zu gefährlich für unseren hämophilen Sohn.
Was tun, wenn der hämophile Sohn Fußball liebt?
Aber wir konnten uns nicht durchsetzen. Da halfen auch kein Musikverein, kein Schwimmkurs und kein Wing Tsun (ein Kampfsport). Fortan drehte sich alles mit und um den Ball. In jeder freien Minute kickte Niklas mit seinen Kameraden. Der Ball war immer im Rucksack dabei, zusammen mit Notfall-Faktor, Verbandsmäppchen und sämtlichen Telefonnummern von uns Eltern, Großeltern und der Gerinnungsambulanz.
Seine Fußball-Begeisterung lag vermutlich nicht nur am Sport selbst, sondern auch an dem Wunsch, mit seinen Freunden etwas unternehmen zu können und zu der Gruppe der „coolen“ Fußball-Kids dazu zu gehören. Wahrscheinlich hat auch unsere ablehnende Haltung gegenüber dem in unseren Augen gefährlich Sport ihren Teil dazu beigetragen. Natürlich wollten wir ihm nicht den Spaß an Sport oder dem Ball selbst verbieten. Wir wollten Niklas ja auch nicht in Watte packen. Bis zu einem gewissen Punkt war für uns alles okay, aber als er dann in den Fußball-Verein wollte, war uns schon mulmig zu mute. Wir habe sehr viel darüber diskutiert und Kinder neigen ja gerne dazu, genau das zu tun, was die Eltern nicht wollen.
Zu jedem Osterfest gab es dann ein neues Fußballtor im Garten. Er spielte stundenlang – bei Regen, Schnee und Sonne – mit sich und dem Ball. Dazu wurde lautstark kommentiert. Man hätte meinen können, die ganze Nationalmannschaft wäre vor Ort.
War er nicht aktiv im Geschehen, war es passiv mit der PS4. Ein FIFA-Spiel nach dem anderen wurde gekauft. Kein Fußballbuch durfte mehr fehlen und Sammelkarten wurden getauscht. EM und WM waren die absoluten Favoriten. Jeder Spieler war mit Namen, Größe, Gewicht und persönlichen Werdegang bekannt. Sein Traumjob wurde der Fußball-Reporter. Und dazu hätte er die richtige Begabung gehabt. Denn was er körperlich nicht umsetzen konnte, machte er mit Kopf und Sprache wett.
Wenn das Runde ins Eckige muss
Trotz allem äußerte Niklas immer wieder nur einen Wunsch: Aktiver Spieler im Verein zu werden. Wir boten ihm an, eine Schiedsrichterausbildung zu machen, was er strikt ablehnte. Er wolle spielen und nicht der Buhmann von allen sein.
Mit seinem ersparten Geld kaufte er sich Trikots und Stadionkarten für seinen geliebten VfB Stuttgart. Zusammen mit seiner Patentante wurde der Lieblingsverein lautstark angefeuert. Diese Ausflüge waren das absolute Highlight. Kein Fan-Store blieb unentdeckt. Ich kann schon nicht mehr zählen, wie oft ich mit ihm da war oder wie viel Geld wir dort ausgegeben haben. Fußbälle mit Autogrammen und jede Menge andere Fanartikel wurden zur Sammelsucht. Durch den erworbenen Tischkicker war er der Star unseres Dorfes.
Mit zunehmendem Alter ließ er sich dann aber auch damit nicht mehr abspeisen. Sein Herzenswunsch sollte in Erfüllung gehen. Kurzerhand ging er mit 16 Jahren eigenmächtig zum Training des örtlichen Fußballvereins. Er kämpfte sich durch: ein paar Monate hartes Training, einen Spielerpass und am Ende dann die harte Erkenntnis, dass es wohl doch nicht seinen Träumen entsprach. Fußball war viel zu anstrengend für seinen Körper. Das lag vermutlich auch daran, dass er erst so spät mit dem Spielen im Verein angefangen hat. Deswegen nahm er auch immer nur am Training teil und bestritt nie ein tatsächliches Fußballspiel. Glücklicherweise kam es aber auch beim Training nie zu ernsthaften Verletzungen, da er wahrscheinlich auch durch seine Prophylaxe gut geschützt war. So heimlich, wie er sich in den Verein eingeschlichen hatte, so heimlich verließ er ihn auch wieder.
Vom runden Leder zum Blasinstrument
Der Fußballverein wurde dann durch den Musikverein ersetzt. Angefangen in der Jugendkapelle, war dann bald die Stadtkapelle, die auf höchstem Niveau spielt, das neue Ziel. Bemerkenswert im Musikverein ist die ganz tolle Kameradschaft zwischen den Mitgliedern – vom Schulkind bis zum Rentenalter. Die älteren Mitglieder erziehen die jüngeren und fungieren als Vorbilder.
Die Blasmusik ist bis heute Niklas als oberstes Hobby. Angefangen hat er mit 6 Jahren mit der Blockflöte und seit er 10 Jahre alt ist, spielt er die Posaune. Er spielt in der Stadtkapelle, die wirklich gut ist, und mit der er auch Auftritte hat. Aber ganz losgelassen hat der Fußball ihn nicht: Denn auch im Musikverein gibt es einige Fußballbegeisterte. Zusammen gucken sie wöchentlichen Sport oder zocken FIFA-Spiele zum Ausgleich oder zum Abreagieren auf der Konsole.
Aufatmen und Glück gehabt
Für mich als Mutter war die Zeit der Fußballbegeisterung – das muss ich zugeben – sehr aufwühlend und doch mit einigen Sorgen verbunden. Was ist, wenn es doch mal zu einer schwereren Verletzung kommt und nicht schnell genug reagiert wird? Nimmt er seine Hämophilie vielleicht zu sehr auf die leichte Schulter?
Heute rückblickend weiß ich jedoch, dass ich vielleicht ein wenig zu vorsichtig war. Würde ich heute noch mal an derselben Stelle stehen, würde ich mein Kind früher den Vereinsfußball ausprobieren lassen. Denn Niklas litt schon sehr unter meiner Vorsichtigkeit. Zudem sind die Therapieoptionen stetig besser geworden, was einem auch noch mal Sorgen nimmt und Entscheidungen erleichtert.
Doch durch die tatkräftige Unterstützung unserer Mitmenschen, unserem Freundeskreis und unseren Bekannten damals, die mit Sicherheit des Öfteren mal heftig schlucken mussten, sind wir alle sehr glücklich, dankbar und zufrieden.
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