Am Anfang noch ganz unbeschwert
Als Niklas 8 Monate alt war, erfuhren wir, dass er schwere Hämophilie A hat. Auch wenn das für uns natürlich zunächst ein Schock war, so merkte man bei Niklas nicht viel davon. „Dem sieht man den Schalk im Nacken sitzen.“, waren die Worte unserer ersten Behandlerin, mit denen sie voll ins Schwarze traf. Schon die Babywiege mit dem daran aufgehängten Mobile stand keine Minute still. Spazierfahrten im Kinderwagen waren viel zu langweilig. Das Leben musste bewegt werden. Mit der Lauflernhilfe „Gehfrei“ sauste Niklas stundenlang im ganzen Wohnstock rum. Als er dann laufen konnte, schwebte er förmlich über dem Boden. Wir hatten unsere Mühe, ihm tatsächlich folgen zu können. Zu groß war seine Gier auf Neues.
Auch unsere Kinderärztin hatte ihre wahre Freude an dem 3-mal wöchentlich stattfindenden Schlagzeugkonzert, das er, Dank ihrem Mülleimer mit Deckel und lautem Gesang, vortrug. Andere Kinder wollten Zeichentrick im TV schauen, Niklas brauchte Musik und Kinderinstrumente – von Akkordeon über Flöte, Trompete und Trommel bis hin zur Gitarre plus eine Musiksendung.
Mit dem Reden kam dann eine neue Leidenschaft dazu. Im Garten wurde hinter dem Zaun gelauert, ob jemand zum Quasseln vorbeikam, die Zuhörenden waren sichtlich amüsiert. Ob in einer Wirtschaft, beim Einkaufen, im Urlaub oder der Reha: Es gab kein Halten mehr. Überall ging er auf Achse, um sich zu unterhalten. Berührungsängste gab es keine. Niemals hätten wir gedacht, dass dies sich jemals ändern könnte.
Der Einfluss anderer Menschen prägte Niklas
Mit der Kindergartenzeit kam automatisch auch die Persönlichkeitsumwandlung. Wir waren eigentlich sehr glücklich, dass die Leitung diese Verantwortung für ein „behindertes“ Kind auf sich nehmen wollte. Und das sogar ohne Integrationshilfe. Die Großeltern wohnten direkt neben dem Kindergarten und der Papa arbeitete nur einen Kilometer entfernt. Außerdem war unsere Situation im 500-Einwohner-Dorf bekannt – was letztendlich dann zum Verhängnis wurde, weil alle zu übervorsichtig wurden und keiner natürlich schuld an irgendwas sein wollte.
Obwohl wir immer wieder allen versicherten, dass Niklas durch sein Medikament geschützt ist und man ihn nicht anders behandeln soll – außer natürlich, wenn tatsächlich etwas passiert wäre und man (wie bei jedem Kind) den Notruf wählen müsste: Dann bräuchte Niklas zuerst sein Medikament.
Da unser Sohn dann unter ständiger Beobachtung stand, interpretierte die Umgebung in alles Mögliche irgendwelche Verhaltensstörungen. So kam es, dass wir Ergotherapie, Heilpädagogik und Kinderpsychologie zugeteilt bekamen. Aus dem fröhlichen, offenen Kerlchen wurde ein in sich gekehrter kleiner Bub, der allein für sich sein wollte, und Naturkatastrophen wie Erdbeben und Vulkanausbrüche spielte und sich bei jeder Abholung vom Kindergarten mir vor die Füße warf.
In der Grundschule wurde ihm Autismus aufgeschwatzt, was aber von Psychologen widerlegt wurde. Immer mehr fühlten wir sein schwindendes Selbstwertgefühl. Stattdessen kamen Ängste und Minderwertigkeitskomplexe. Niklas wollte nichts von seiner Hämophilie wissen. Er betrachtete seine Erkrankung als Feind und ich als Mutter konnte nicht helfen. Ich fühlte mich schuldig an allem und musste zusehen und konnte nicht helfen.
Die Pubertät verlief in der heißen Phase glimpflich ab, da Corona seine Zeichen setzte. Jedoch hat aber auch Corona nicht unbedingt das Selbstwertgefühl gesteigert und die Ängste bekämpft. Auf der einen Seite war man ans Haus gebunden und es durften keine Partys gefeiert werden, die eigentlich im Alter eines Teenies wichtig gewesen wären. Dadurch wäre ich als Mutter früher gezwungen gewesen, mein Kind loszulassen und es seine eigenen Erfahrungen – ohne mich – machen zu lassen. Für mich war es zu dem Zeitpunkt in seiner Entwicklung und dem damaligen – durchaus leichtsinnigen – Teenageralter natürlich leichter, da ich mir weniger Sorgen machen musste. Rückblickend stellte sich diese Zeit jedoch dann als verlorene Jahre in Bezug auf die Selbstständigkeit und auch das Selbstwertgefühl heraus. Dies wurde dann schrittweise mit mehr Tiefs als Hochs nach der Pandemie erarbeitet.
Auf dem Weg in ein glückliches Leben
Dem Vereinsleben und der stetigen Weiterentwicklung als Gruppe ist es zu verdanken, dass Niklas jetzt selbstbewusst durchs Leben geht. Die Unterstützung der Kameraden im Alter von Teenager bis Opa hat Niklas gutgetan. Ob es der Musikverein oder die Feuerwehr war – beide Vereine steigerten mit jedem Einsatz das Selbstwertgefühl. Die Ängste verblichen mit jedem Erfolg in der Gruppe. Eine Gruppe, in der jede einzelne Person wichtig ist.
Mit dem Führerschein kam dann die Freiheit. Keine Überwachung von niemandem mehr. Das stärkt das Selbstwertgefühl noch weiter. Für mich begann die Zeit des Loslassens. Ein Prozess, der mir sehr schwergefallen ist. Aber ich habe die Gewissheit (und irgendwie auch die Belohnung), die Mutter von einem – zwar chronisch krankem – Kind zu sein, das nach jahrelangem Kampf sein ursprüngliches Wesen wiedergefunden hat und zu einem sehr empathischen jungen Mann geworden ist.
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