Was sind Leitlinien?
Medizinische Leitlinien sind systematisch entwickelte Empfehlungen, die Ärztinnen, Ärzte und andere medizinische Fachkräfte dabei unterstützen sollen, in konkreten klinischen Situationen die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen. Sie basieren auf einer sorgfältigen Auswertung wissenschaftlicher Studien und einem strukturierten Konsensverfahren, an dem Expertinnen und Experten verschiedener Fachrichtungen beteiligt sind.
Leitlinien sind keine juristisch verbindlichen Vorschriften, sondern dienen als Handlungs- und Entscheidungshilfen. Sie unterstützen individuelle ärztliche Entscheidungen, ersetzen sie aber nicht. Je nach Situation, Begleiterkrankungen oder individuellen Bedürfnissen kann es sinnvoll sein, bewusst von Leitlinien abzuweichen.
Wie entstehen Leitlinien?
Die Entwicklung medizinischer Leitlinien folgt einem klar strukturierten, wissenschaftlich fundierten Prozess: Nach einer systematischen Recherche werden die gesammelten Informationen kritisch bewertet und in Empfehlungen formuliert. Dabei wird auch der erreichte Grad des Konsenses unter den Expertinnen und Experten festgehalten.
Fachgesellschaften, Expertengremien und immer häufiger auch Patientenvertretungen arbeiten zusammen. In Deutschland übernehmen diese Aufgabe unter anderem:
- die Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung e. V. (GTH),
- die Bundesärztekammer (BÄK),
- der Muskuloskelettale Arbeitskreis (MSA) und
- Patientenorganisationen wie z. B. die DHG oder IGH
- International spielt auch die World Federation of Hemophilia (WFH) eine zentrale Rolle
Alle Beteiligten achten darauf, dass der Prozess transparent und nachvollziehbar abläuft – mit klaren Kriterien, wie Empfehlungen entstehen und begründet werden. So wird ein verlässlicher Rahmen für die ärztliche Behandlung und für die Orientierung der Betroffenen hergestellt.
Zu welchem Zweck entstehen Leitlinien?
Leitlinien werden entwickelt, um die medizinische Versorgung systematisch zu verbessern. Ihr Hauptzweck ist es, eine einheitliche und qualitativ hochwertige Behandlung sicherzustellen – unabhängig davon, wo eine Patientin oder ein Patient lebt oder welche Ärztin bzw. welcher Arzt die Behandlung durchführt.
Gerade bei seltenen oder komplexen Erkrankungen wie der Hämophilie A können Leitlinien dabei helfen, Versorgungslücken zu schließen. Denn sie schaffen Verbindlichkeit auf fachlicher Ebene, ohne dabei starre Vorgaben zu machen. So unterstützen sie individuelle Therapieentscheidungen und tragen gleichzeitig zur Reduktion von Fehlbehandlungen und regionalen Unterschieden in der Versorgung bei.
Warum sind Leitlinien wichtig für Hämophilie-Patienten?
Ein weiteres wichtiges Ziel ist die Förderung der Patientensicherheit. Leitlinien liefern klare Hinweise darauf, welche Diagnostik sinnvoll und welche Therapie empfohlen ist sowie worauf besonders geachtet werden sollte – zum Beispiel bei der Überwachung von Gelenkveränderungen oder der Vermeidung von Blutungen.
Leitlinien tragen auch zur Effizienz im Gesundheitswesen bei, denn wenn Diagnostik und Therapie zielgerichtet eingesetzt werden, lassen sich unnötige Behandlungen und Folgekomplikationen vermeiden. Das spart nicht nur Kosten, sondern vor allem auch Leid und Belastung für die Betroffenen.Für Dich bedeutet das: Leitlinien schaffen Orientierung, Sicherheit und Transparenz – und sie können eine wertvolle Grundlage sein, um gemeinsam mit dem Behandlungsteam informierte Entscheidungen zu treffen.
Überblick wichtiger Leitlinien und Empfehlungen für Hämophilie A
- WFH Guidelines (World Federation of Hemophilia, letzte Ausgabe 2020):
– Umfassende Empfehlungen zur Prophylaxe, Blutungsbehandlung und Gelenkgesundheit - Leitlinie der Bundesärztekammer (BÄK):
– Querschnitts-Leitlinien zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten
– Empfehlungen zur Diagnostik, Therapie und Prophylaxe bei Hämophilie - Leitlinien der GTH:
– S2k-Leitlinie Synovitis bei Hämophilie
– Fokus auf Synovitisbehandlung und Gelenkerhalt bei Hämophilie
Empfehlungen der Leitlinien:
Im Folgenden werden wir Dir die Empfehlungen der verschiedenen Leitlinien vorstellen mit einem Schwerpunkt auf der schweren Hämophilie.
Anbindung an ein Hämophilie-Zentrum1,2,3
Für zertifizierte Hämophilie-Zentren gelten besonders strenge Anforderungen. Diese bieten Dir somit die bestmögliche Behandlung. Eine frühzeitige Anbindung an ein solches Zentrum ist daher sehr empfehlenswert. Eine Liste der Hämophilie-Zentren in Deutschland findest Du hier.
Außerdem ist eine möglichst reibungslose Zusammenarbeit der Mitglieder Deines Behandlungsteams über die Hämostaseologin oder den Hämostaseologen hinaus, etwa Deiner Hausärztin oder Deines Hausarztes sowie Deiner Orthopädin oder Deines Orthopäden wichtig, denn die Anforderungen Deiner Erkrankung sind äußerst komplex. Eine strukturierte Kooperation verbessert nicht nur die Versorgung, sondern auch die Langzeitprognose Deiner Gelenkgesundheit.
Therapieziel1,2,3
Das Ziel Deiner Behandlung heißt „Zero Bleeds“ und bedeutet, dass Du keine spontanen oder behandlungsbedürftigen Blutungen mehr erleben solltest. Der Weg dorthin hängt von der Art Deiner Hämophilie, Deiner Lebensgestaltung und insbesondere auch von Deinem Blutungsphänotyp ab.
Die Leitlinien sind sich hier sehr einig: Bei schwerer Hämophilie sollte bereits früh eine prophylaktische Behandlung erfolgen. „Früh“ heißt hier innerhalb des 1. Lebensjahres, bei Blutungen auch bereits ab sechs Monaten.1,3 Die Heimselbstbehandlung ist in der Regel möglich und auf Dauer auch die übliche Praxis. Für die mittelschwere Hämophilie hängen die Empfehlungen stärker mit den beobachteten Blutungen zusammen: Treten „gelegentliche bis häufige Blutungen, insbesondere Gelenkblutungen“ auf, wird ebenfalls eine Prophylaxe empfohlen. Ein neues Konsensuspapier definiert klare Kriterien für einen solchen „schweren Blutungsphänotyp“. Schau Dir hier unseren Beitrag zum Konsensuspapier an.
Der angestrebte Talspiegel
Bei der Behandlung mit Faktor-VIII-Präparaten sinkt die Menge des im Blut vorhandenen Faktors mit der Zeit ab. Bevor es zu einer neuen Faktorgabe kommt, wird ein Minimum erreicht – der Talspiegel. Dessen Höhe lässt sich über Anpassungen der Dosis und der Häufigkeit steuern.
Die Leitlinien der WFH und der DGHO empfehlen bei einer Faktor-VIII-Prophylaxe einen Talspiegel von 3 bis 5 Prozent anzustreben, sowohl für die schwere als auch für die mittelschwere Hämophilie. Die BÄK fasst die Zielspanne mit 1 bis 5 Prozent etwas breiter.1,2,3 Bei einer Prophylaxe, die auf einem anderen Therapieprinzip beruht, ist diese Therapie unabhängig von einem Talspiegel.
Bei einer Hämophilie mit Hemmkörpern müssen weitere Dinge beachtet werden. Unter anderem ist diese Form der Erkrankung mithilfe einer Antikörper-Therapie behandelbar.
Gelenkstatus
Allgemein werden engmaschige Kontrolluntersuchungen empfohlen, die anfangs etwa alle 7–10 Tage stattfinden sollten. Mit der Zeit kann diese Frequenz schrittweise heruntergefahren werden, von zweiwöchentlich auf monatlich auf alle 3–6 Monate.1,2,3
Insbesondere die Bewertung des Gelenkstatus ist von großer Bedeutung. So können frühzeitig unauffällige Entzündungen und Symptome entdeckt und die Entwicklung von Schäden verfolgt werden. Als grundlegendes Tool dient dazu der HJHS – der Hemophilia Joint Health Score. Der HJHS hält fest, an welchen Gelenken zum Untersuchungszeitpunkt Blutungen zu erkennen waren und wie stark diese ausgeprägt waren. Ähnliche Scores gibt es auch für andere Untersuchungsmethoden wie Ultraschall und MRT.1,2,3
Einsatz von Ultraschall
Die Ultraschall-Untersuchung der Gelenke wird zunehmend zum Standard der Beurteilung der Gelenkgesundheit und der Erkennung und Überwachung einer Synovitis. Ultraschall ist schnell und kostengünstig (im Gegensatz zur MRT), nicht-invasiv und erlaubt eine frühzeitige Detektion von Entzündungen und Gelenkveränderungen. Diese Untersuchungen sind eine wichtige Entscheidungshilfe bei der Therapiewahl, etwa wenn es darum geht, eine Radiosynoviorthese durchzuführen oder eine andere Maßnahme vorzuziehen. Ultraschalluntersuchungen werden von den drei Leitlinien daher alle 3-6 Monate empfohlen.1,2,3
Therapie und Management der Synovitis
Lautet die Diagnose „akute Synovitis“, können zuerst sogenannte konservative Maßnahmen erfolgen. Das sind intensivierte Faktorsubstitution, kurzfristige Ruhigstellung und eine konsequente Physiotherapie. Häufig kann so die Entzündung im Gelenk ausheilen.
Bei wiederholten Gelenkblutungen kann sich eine chronische Synovitis bilden, bei der konservative Methoden möglicherweise nicht mehr ausreichen. Dann kann eine Radiosynoviorthese angezeigt sein, bei der das entzündete Gewebe mithilfe radioaktiver Stoffe, die in das Gelenk injiziert werden, zerstört wird. Ein nächster Schritt kann eine chirurgische Synovektomie sein, also eine operative Entfernung der entzündeten Gelenkschleimhaut.
Als zusätzlich Maßnahmen können Schmerztherapien und Rehabilitationsprogramme verschrieben werden. Zur weiteren Unterstützung geschwächter oder geschädigter Gelenke können Orthesen helfen. Auch Einlagen für die Schuhe, Stoßdämpfung und Abrollhilfen können wichtige Hilfsmittel sein, um das Gelenk zu schonen.
Akute Blutungen und Operationen
Im Rahmen des perioperativen Managements – also im Rahmen der Behandlung zur Zeit der Operation – muss der Medikamenteneinsatz eventuell natürlich stark angepasst werden.1,2,3
Behandlung von akuten Blutungen bei Hämophilie A:
- Bei spontanen oder traumatischen Blutungen jeglicher Lokalisation wird eine Behandlung mit Faktorenkonzentraten bei Bedarf (Bedarfsbehandlung) empfohlen.
- Bei Patienten mit Hämophilie A ohne Hemmkörper: Blutungen werden mit Faktor VIII (FVIII)-Konzentrat behandelt. Die Dosierung erfolgt bedarfsweise und ist individuell anzupassen. Unterstützend können lokale Maßnahmen wie mechanischer Druck, die Applikation von Antifibrinolytika oder Fibrinkleber eingesetzt werden.
- Bei Patienten mit Hemmkörpern (Inhibitoren) gegen Faktor VIII erfolgt die Behandlung der akuten Blutung mit Bypasspräparaten, entweder aktiviertem Prothrombinkomplex-Konzentrat (APCC) oder rekombinantem Faktor VIIa (rFVIIa).
– Die Therapie bei Blutungen, insbesondere Schleimhautblutungen, kann durch die Gabe von Antifibrinolytika unterstützt werden.
Perioperatives Management
Bei operativen Eingriffen soll eine blutungsvorbeugende Behandlung erfolgen. Die Planung und Durchführung von Operationen sowie die perioperative blutungsvorbeugende Therapie wird idealerweise mit dem Behandlungsteam im Hämophiliezentrum abgestimmt.
Tipps für Patienten im Umgang mit Leitlinien
Leitlinien sind nicht nur eine Orientierung für Ärztinnen und Ärzte, sondern auch für Dich und Deine Therapieentscheidung. Falls Du mit der Sprache und dem Umfang haderst, kann es hilfreich sein Bekannte um Unterstützung zu bitten oder auf digitale Hilfsmittel wie ChatGPT oder eine andere KI zurückzugreifen, die Teile zusammenfassen und für Dich leicht verständlich umschreiben können.
Die Kenntnis von Leitlinien kann Dir dabei helfen, Dich mit Deinem Behandlungsteam noch besser auszutauschen und ein besseres Verständnis für Deine Therapie und die dazugehörigen Untersuchungen zu bekommen. Dadurch kannst Du, im Sinne des Shared Decision Makings, aktiv an Therapieentscheidungen beteiligt sein und selbst zu besseren Ergebnissen beitragen.1,2,3
Du kannst zum Beispiel mit ganz einfachen Fragen anfangen:
- Ist meine Prophylaxe ausreichend?
- Was kann ich tun, um meine Gelenke zu schützen?
- Welche Therapieoptionen kommen für mich infrage?
Wenn Du Dich selbstständig informierst, werden sicherlich Fragen auftauchen, die Du mit zur nächsten Kontrolluntersuchung nehmen kannst. So erhältst Du ganz selbstverständlich mehr Kontrolle über Deine Therapie und Dein Leben.
Hast Du Fragen, Anregungen oder Kritik? Dann schreibe uns gerne eine E-Mail über das Kontaktformular. Wir melden uns schnellstmöglich zurück.
1. Srivastava A, Santagostino E, Dougall A, et al. WFH Guidelines for the Management of Hemophilia, 3rd edition. Haemophilia. 2020:26(Suppl 6):1-158. https://doi.org/10.1111/hae.14046, zuletzt abgerufen am 14.05.25
2. GTA & MSA. S2k-Leitlinie Synovitis bei Hämophilie (Langfassung) 2., aktualisierte Auflage 2022. AWMF online. https://register.awmf.org/assets/guidelines/086-005l_S2k_Synovitis-bei-Haemophilie_2023-02.pdf, zuletzt abgerufen am 14.05.25
3. Bundesärztekammer (BÄK). Querschnitts-Leitlinien zur Therapie mit Blutkompomenten und Plasmaderivaten. Gesamtnovelle 2020. https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/_old-files/downloads/pdf-Ordner/MuE/Querschnitts-Leitlinien_BAEK_zur_Therapie_mit_Blutkomponenten_und_Plasmaderivaten-Gesamtnovelle_2020.pdf, zuletzt abgerufen am 14.05.25
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