Worum geht es?
Die Einteilung in schwere, mittelschwere und leichte Hämophilie richtet sich allein nach der vorhandenen Faktoraktivität. Liegt Deine Faktoraktivität zwischen 1 % und 5 %, hast Du eine mittelschwere Hämophilie – das sagt aber noch nicht sehr viel darüber aus, wie häufig und wie schwer Deine Blutungen sind.
Auch wer mittelschwere oder leichte – also „nicht-schwere“ Hämophilie A hat, kann im Alltag unter wiederholten oder schwerwiegenden Blutungen leiden – und trotzdem bislang nicht die notwendige prophylaktische Behandlung erhalten. Genau hier setzt ein neues Konsensuspapier deutscher Hämophilie-Expert:innen an: Es schlägt konkrete Kriterien vor, wann eine Prophylaxe auch bei nicht-schwerer Hämophilie sinnvoll sein kann.
Was sind die Behandlungsempfehlungen?
Empfehlungen für die Behandlung der Hämophilie liefern etablierte Leitlinien der verschiedenen Expertengremien wie der Bundesärztekammer oder der World Federation of Hemophilia. Diese Werke sind systematisch und auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden, von Expertengremien erstellte Informationsquellen für bestimmte Erkrankungen. Ärztinnen und Ärzten, aber auch Patienten wie Dir bieten sie Orientierung sowohl für das Management einer Erkrankung als auch für die Einleitung und das Monitoring der Therapie und des Behandlungserfolges. Für die Frage, wie mit schweren Blutungen bei nicht-schwerer Hämophilie umzugehen ist, enthalten sie allerdings keine klaren Empfehlungen. Möglicherweise neigst Du zu schweren Blutungen, aber bekommst trotzdem keine Prophylaxe.
Ein neues „Konsensuspapier“ gibt detaillierte Empfehlungen
Empfehlungen für diesen Fall liefert nun eine neue medizinische Veröffentlichung führender deutscher Expertinnen und Experten mit einem sogenannten „Konsensuspapier“. Darin geben sie allgemeingültige Empfehlungen dafür, wann eine Prophylaxe auch bei nicht-schwerer Hämophilie sinnvoll sein kann.
Es ist noch gar nicht so lange her, da haben sich die Empfehlungen der etablierten Leitlinien für die mittelschwere Hämophilie geändert: Seit 2020 wird nun auch Menschen mit einer Faktoraktivität von 1 bis 5 Prozent unter Umständen eine prophylaktische Behandlung empfohlen:
Info
Eine blutungsvorbeugende Dauerbehandlung ist auch bei mittelschwerer Hämophilie indiziert, wenn gelegentliche bis häufige Blutungen, insbesondere Gelenkblutungen, auftreten.1
Jedoch wurde diese Formulierung nicht genauer um praxisnahe Kriterien ergänzt. Das neue Konsensuspapier ist als Reaktion darauf zu verstehen, denn ein niedriger FVIII-Wert allein reicht nicht aus, um die tatsächliche Blutungsneigung zu beschreiben.
Phänotyp ist der wissenschaftliche Begriff für alle in Erscheinung tretenden Merkmale, die ein Individuum ausmachen – zum Beispiel die Augenfarbe. Im Gegensatz dazu bezeichnet der Genotyp die Gesamtheit der Gene, die in der Erbsubstanz gespeichert sind. Der Genotyp bestimmt zu großen Teilen den Phänotyp.

Die Definition des schweren Blutungsphänotyps
Was sind nun die konkreten Empfehlungen: Im Konsensuspapier wird erstmals der Begriff „schwerer Blutungsphänotyp“ (SBPT) für die klinische Praxis definiert – unabhängig vom Schweregrad der Hämophilie. Zu den Hauptkriterien, die für einen SBPT sprechen, zählen die Autorinnen und Autoren folgende Punkte:
- Lebensbedrohliche, spontane oder traumatische Blutungen (z. B. Hirnblutung)
- Schwere Blutungen, die spontan oder gehäuft oder nach eigentlich nicht ausreichender Gewalteinwirkung auftreten und die zu dauerhaften Einschränkungen führen
- Fortschreitende Beeinträchtigung der Gelenke
- Hämophile Arthropathie
- Chronische Synovitis
Dazu kommen Nebenkriterien:
- Wiederholte spontane Blutungen
- Familiengeschichte mit SBPT, lebensbedrohlichen Blutungen oder hämophiler Arthropathie
- Wiederholte Blutungen infolge eigentlich nicht ausreichender Gewalteinwirkung
Tritt ein Hauptkriterium oder treten mindestens zwei Nebenkriterien zusammen auf, liegt ein schwerer Blutungstyp vor.
Zwei neue Bereiche der mittelschweren Hämophilie
In der Publikation schlagen die Forschenden zudem vor, den Bereich zwischen 1 und 5 Prozent Faktoraktivität in zwei Bereiche zu unterteilen:
Faktoraktivität zwischen 1 und 3 Prozent: Es ist davon auszugehen, dass die Blutungen stark und häufig auftreten. Eine vorbeugende Therapie ist dadurch immer empfehlenswert!
Faktoraktivität zwischen 3 und 5 Prozent: Die Wahrscheinlichkeit von Blutungen ist geringer. Eine Prophylaxe ist immer bei Vorhandensein eines SBPT empfehlenswert.
Empfehlungen für eine intermittierende Prophylaxe
Liegt bei nicht-schwerer Hämophilie keine klare Prophylaxe-Empfehlung vor, so gibt es doch eine Reihe Situationen, in denen eine vorübergehende Prophylaxe nötig ist – das ist eine prophylaktische Behandlung, die eine Gesamtdauer von 45 Wochen pro Jahr nicht übersteigt:
- Bei Komorbiditäten und Medikamenten, die eine vorübergehend erhöhte Blutungsneigung verursachen
- Im Rahmen von körperlicher Aktivität bei erhöhtem Blutungsrisiko
- Bei chirurgischen Eingriffen
- Im Rahmen von Rehabilitationsmaßnahmen
- Im Rahmen von Menorrhagie bei Frauen mit Hämophilie
Behalte aber im Hinterkopf, dass die Grenzen zwischen vorübergehender und voller Prophylaxe fließend sind. Deine Präferenzen und Dein Leben können sich jederzeit ändern und dementsprechend muss auch Deine Therapie angepasst werden.
Bessere Versorgung für Betroffene
Ganz wichtig: Die Entscheidung für oder gegen eine Prophylaxe ist immer eine persönliche Entscheidung, die Du zusammen mit Deinem Behandlungsteam treffen solltest. Die Autorinnen und Autoren des Konsensuspapiers wollen mit ihren Vorschlägen eine Diskussionsgrundlage und Entscheidungshilfe für Dich und Hämophilie-Spezialistinnen und -Spezialisten bieten.
Trau Dich und sprich über Deine Blutungen
Vielleicht hast Du Dich daran gewöhnt, mit gelegentlichen Blutungen zu leben und denkst nicht, dass eine regelmäßige Therapie sinnvoll oder gar nötig ist. Aber auch immer wiederkehrende kleinere Blutungen oder weniger häufige, schwere Blutungen können Deine Gelenkgesundheit erheblich beinträchtigen und damit langfristig zu Problemen führen und Deine Lebensqualität einschränken.
Mit den vorgeschlagenen Kriterien für einen SBPT kannst Du Dein eigenes Blutungsrisiko besser einschätzen und gemeinsam mit Deinem Behandlungsteam entscheiden, ob eine Prophylaxe für Dich sinnvoll ist und die dafür beste Therapie finden. Die Möglichkeit einer Prophylaxe kann Dir die Chance auf ein aktiveres und unbeschwerteres Leben sowie den langfristigen Erhalt Deiner Gelenkgesundheit bieten.
Sprich mit Deinem Arzt, wenn
- Du eines oder mehrere der genannten Hauptkriterien für einen SBPT bei Dir feststellst.
- Du mindestens zwei der genannten Nebenkriterien bei Dir bemerkst.
- Du häufiger blutest, als Du für normal hältst.
- Du Dir Sorgen um Deine Gelenke machst.
- Du mehr über die Möglichkeiten einer vorbeugenden Behandlung erfahren möchtest.
Wir hoffen, dieser Artikel hat Dir geholfen, Deinen Blutungstyp besser zu verstehen. Wenn Du es noch genauer wissen möchtest, kannst Du Dir das Konsensuspapier hier auch selbst anschauen. Sei mutig und besprich Deine Behandlungsmöglichkeiten mit Deiner Ärztin oder Deinem Arzt. Zusammen findet Ihr den besten Weg für Dich!
Warum ist dieses Papier besonders?
Das Konsensuspapier wurde von führenden deutschen Expertinnen und Experten verfasst – basierend auf klinischer Erfahrung und aktueller Forschung. Es soll sowohl Ärztinnen und Ärzten als auch Patientinnen und Patienten dabei helfen, die Versorgung bei nicht-schwerer Hämophilie besser und individueller zu gestalten.
Hast Du Fragen, Anregungen oder Kritik? Dann schreibe uns gerne eine E-Mail über das Kontaktformular. Wir melden uns schnellstmöglich zurück.
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